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Filmstill aus dem Film A House Made of Splinters.

Das Heulen
der Sirenen

Gastkommentar von Jörg-Hendrik Brase, ZDF

Ein kleines Dorf in den Hügeln der Westukraine. Eineinhalb Autostunden von Lwiw entfernt. Wir sollen den Namen des Ortes nicht nennen, sollen auch die Straßen und die Häuser nicht zeigen. Nichts soll Hinweise auf den Aufenthaltsort der Kinder geben. Nichts soll die Ruhe stören. Denn hier, in diesem Dorfkindergarten fernab der Front im Osten, sind sie sicher vor den Angriffen der russischen Artillerie. Das Heulen der Sirenen aber haben sie immer noch im Ohr.

Wir sind gekommen, um für das ZDF über das Schicksal von Kindern zu berichten, die aus den Kampfgebieten evakuiert wurden, in überfüllten Zügen mit ihren Müttern in Lwiw ankamen und vom Bahnhof aus auf verschiedene Unterkünfte in der Region verteilt wurden. Die Kinder kommen aus Charkiv, aus Mariupol, verbrachten viele Nächte im Luftschutzkeller, aufgeschreckt aus dem Schlaf durch den Luftalarm. Man brachte sie in Sicherheit in der Westukraine. Ihre Väter sind zurückgeblieben, um zu kämpfen. Ein kleines Mädchen aus dem Dorf malt Häuser und Blumen. Der neunjährige Mischa aus Charkiv malt Flugzeuge und Panzer.

Als deutsche Journalist*innen bereisen wir die Ukraine, berichten von Flucht, Zerstörung, Tod. Es geht um Frontverläufe, Haubitzen, Kampfdrohnen, um Kriegsverbrechen – und um Kriegspropaganda. Das erste Opfer eines Krieges sei die Wahrheit, heißt es immer. Das stimmt. Als Berichterstatter*innen müssen wir versuchen, uns nicht vereinnahmen zu lassen. Das aber fällt schwer. Es entsteht ein Sog von Informationen und Meinungen, vor allem, wenn das Täter-Opfer-Narrativ so klar definiert ist, wie nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine.

Die Frage, ob es sich bei den Leichen auf den Straßen von Bucha, Irpin und anderen Vororten von Kiew – in der Mehrzahl waren es Männer - tatsächlich um „unschuldige Opfer“ oder gefangengenommene Kämpfer der ukrainischen Territorialverteidigung gehandelt hat, wurde nicht gestellt. Das sei auch egal, hörte ich immer wieder, denn deren offensichtliche Exekution sei ja nun schließlich ein Kriegsverbrechen. Das stimmt. Und dieses Verbrechen muss untersucht und aufgeklärt werden. Doch waren es „unschuldige Opfer“ oder „Kriegsgefangene“? Der Unterschied ist subtil, aber wichtig. Was ist Propaganda, was ist die Wahrheit? Den kleinen Mischa aus Charkiv kümmern diese Fragen nicht. Er hat einfach das, was ihm auf seiner Kinderseele liegt, auf das weiße Blatt vor ihm gemalt.

 

Jörg-Hendrik Brase, Leiter der ZDF-Korrespondentenstelle Istanbul