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Selbstbestimmt und selbstbewusst: Das Projekt "Mädchen. Machen. Zukunft." öffnet Räume

Was ist mir wichtig? Wie will ich leben? Wo ist mein Platz in der Welt? Für die Auseinandersetzung mit solchen Fragen fehlt Mädchen mit Fluchterfahrung, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, oft der Raum. Das Projekt "Mädchen. Machen. Zukunft." schafft für sie einen geschützten Rahmen. Umgesetzt wird das Projekt von Save the Children Deutschland, gefördert durch den Projektpartner IKEA.

Eine Reportage von Katharina Zink.

Zwei junge Teilnehmerinnen an dem Projekt Mädchen.Machen.Zukunft. von Save the Children Deutschland. © Laura Jost

Auf dem Flur ist Lachen zu hören. Links hinten, im Erdgeschoss einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete, steht die Tür offen. In dem Aufenthaltsraum sitzen fünf Mädchen und zwei Frauen um einen Tisch, auf dem bunte Stifte, Zettel und Stoffbeutel liegen. Aus einem Smartphone ist Musik zu hören, drumherum wird diskutiert, mit welchen Motiven und Mustern die Stoffbeutel bemalt werden sollen. Nina, Tatiana, Jasmin, Amira und Mina* sind beim Mädchentreff des Projekts "Mädchen. Machen. Zukunft." von Save the Children, der hier jeden zweiten Freitagnachmittag stattfindet.

Die Mädchen sind zwischen 12 und 15 Jahre alt und leben alle in der Gemeinschaftsunterkunft, sie sind mit ihren Familien aus dem Irak, Afghanistan oder Moldawien geflohen. Nun bewohnen sie mit rund 450 anderen Menschen ein ehemaliges Bürogebäude im Berliner Norden.

Viel Raum für sich selbst gibt es in der Gemeinschaftsunterkunft nicht, Kinder und Jugendliche teilen sich ihre Zimmer mit Geschwistern und Eltern. Die Gemeinschaftsflächen bieten kaum Ausweichmöglichkeiten. Draußen gibt es nur einen kleinen Spielplatz mit zwei Tischtennisplatten und eine Sitzecke, in der Bewohnerinnen und Bewohner Hochbeete angelegt haben. Auf den angrenzenden Grundstücken wird gebaut, es ist laut. Das Gewerbegebiet auf der anderen Straßenseite mit Autohaus, Bekleidungsgeschäft und Supermarkt sorgt für zusätzlichen Betrieb.

Selbstbestimmte Gestaltung der Mädchentreffs

Einblicke in das Projekt Mädchen.Machen.Zukunft. von Save the Children Deutschland. © Laura Jost

Im Alltag in der Unterkunft bietet der Mädchentreff Abwechslung. Dieses Angebot gibt es seit sechs Monaten und steht Mädchen und jungen Frauen zwischen 12 und 21 Jahren offen. Sie sind eingeladen, mit Gleichaltrigen Zeit zu verbringen und können sich sicher sein, dass es in den zwei bis drei Stunden ausschließlich um sie geht: Um ihre Themen, ihre Wünsche und ihre Bedürfnisse. Inzwischen hat es sich eingependelt, dass fünf bis zehn Mädchen regelmäßig zusammenkommen, die meisten im Alter zwischen 12 und 16 Jahren.

In den letzten Monaten haben die Teenager viel unternommen: In der Gruppe wurde gebastelt und gekocht, im Sommer waren die Mädchen im Kiez unterwegs. Sie haben draußen gepicknickt, Eis gegessen oder die Stadt bei einem Ausflug zum Alexanderplatz erkundet. Und Jasmin weiß sofort, warum sie immer wieder kommt: "Ich mag am Mädchentreff, dass wir Zeit haben zum Reden und machen, worauf wir Lust haben", erzählt sie.

Selbstbestimmt zu gestalten und eigene Ressourcen zu erkennen und weiterzuentwickeln – darum geht es bei "Mädchen. Machen. Zukunft." Das Projekt von Save the Children hat es sich zum Ziel gesetzt, Mädchen mit Fluchterfahrung zu stärken und sie dabei zu begleiten, ihre Zukunftsperspektiven aktiv zu gestalten. In diesem Rahmen finden in insgesamt sechs Berliner Gemeinschaftsunterkünften Mädchentreffs statt, hinzu kommen Workshops rund um Fragen zu Selbstbild und Zukunft. Was dort konkret passiert, richtet sich nach den Ideen und Wünschen der Mädchen – sie setzen die Themen.

Sicherer Rahmen für Austausch

Einblicke in das Projekt Mädchen.Machen.Zukunft. von Save the Children Deutschland. © Laura Jost

Bei Jasmin und den anderen Mädchen zeigte sich schnell, wie wichtig es den Mädchen ist, mehr von ihrem Umfeld kennen zu lernen: "Draußen zu sein und Ausflüge in die Stadt zu machen, stand bei den Mädchen von Anfang an ganz oben auf der Wunschliste", erzählt Henrike. Die Trainerin und Sozialarbeiterin ist gemeinsam mit ihrer Kollegin Lena für "Mädchen. Machen. Zukunft." in den Gemeinschaftsunterkünften im Einsatz. Ein entscheidender Baustein ist dabei die zwischenmenschliche Begegnung: "Für die Beziehungsarbeit muss man viel Zeit einplanen, damit sich die Mädchen auf einen einstellen und darauf vertrauen, dass man immer wieder kommt. Das ist das Wichtigste."

Die regelmäßigen Treffen, der sichere Rahmen und die Erfahrung, dass ihre Ideen umgesetzt werden und ihre Themen ernst genommen werden – das ist die Basis für den offenen Austausch, der die Mädchentreffs und Workshops ausmacht. "Beim Kochen, Basteln oder einem Spaziergang kommen die Mädchen ins Gespräch. Dann geht es um alles, was ihnen durch den Kopf geht: Um die Schule, um Liebe und Gefühle, um Aussehen und den eigenen Körper, um Rollenbilder, um Zukunft oder Diskriminierungserfahrungen", erzählt Henrike. Über die Zeit haben sich die Mädchen immer mehr geöffnet und teilen auch, wenn etwas schwierig ist: Zum Beispiel Konflikte mit anderen Jugendlichen oder Herausforderungen, die durch den Spagat zwischen Schulalltag und dem Familienleben in der Unterkunft entstehen.

Vertiefung in Workshops

Einblicke in das Projekt Mädchen.Machen.Zukunft. von Save the Children Deutschland. © Laura Jost

Kristallisieren sich in den Mädchentreffs größere Fragen oder sensible Themen heraus, wird das in speziell konzipierten Workshops aufgegriffen. Einen Impuls lieferte der Wunsch eines Mädchens, über Ängste zu sprechen. So entstand eine Sequenz, in der es um Gefühle ging: In einem Workshop bekamen die Mädchen die Aufgabe, zu fotografieren, was sie mit bestimmten Gefühlen verbinden. Auf den Fotos waren Orte zu sehen wie die Tramstation um die Ecke oder der Spielplatz, andere Bilder zeigten Freundinnen und Geschwister. Über die Bilder und die Geschichten dazu entwickelten sich tiefe Gespräche über Themen, für die die Mädchen sonst kaum Ansprechpersonen haben.

Um die Mädchen in der Reflexion von Rollenbildern, von beruflichen Laufbahnen und ihren eigenen Zukunftsperspektiven zu unterstützen, führten Lena und Henrike auch dazu einen Workshop durch. Anhand des "Spiel des Lebens" diskutierte die Gruppe, was es für Rollenbilder gibt und was sie darüber denken: Arbeiten bei der Feuerwehr wirklich immer nur Männer? Und was möchte ich mal werden? Wo möchte ich leben? Die Mädchen setzen sich selbstbewusst und neugierig mit diesen Fragen auseinander – und haben oft schon einen Plan, wo es hingehen soll. Jasmin besucht seit diesem Schuljahr ein Berliner Gymnasium. "Die neue Schule gefällt mir viel besser als die Grundschule. Vor allem wenn wir diskutieren, zum Beispiel über Politik", erzählt sie. Auch wenn sie am Freitagnachmittag etwas müde ist vom vielen Lernen, ist sie stolz, dass sie den Übergang aufs Gymnasium geschafft hat.

Zusammenarbeit mit den Fachkräften vor Ort

Damit das Projekt in den Einrichtungen bekannt ist und von den Mädchen wahrgenommen wird, ist die Zusammenarbeit mit den Fachkräften vor Ort entscheidend. Francesca arbeitet als Ehrenamtskoordinatorin in der Gemeinschaftsunterkunft. Sie kennt viele der Familien im Haus und sieht in "Mädchen. Machen. Zukunft." einen großen Gewinn: "Dieses Mädchen-Projekt gibt auch Raum für spezielle Themen. Wir merken, dass die Mädchen oft über Themen sprechen möchten, die sehr wichtig sind und die zwischen Tür und Angel zu kurz kommen. Wir Mitarbeiter*innen haben nicht immer genug Zeit – und ich finde auch gut, dass sie mit Externen darüber sprechen können." 

Fachkräfte wie Francesca sind feste Bezugspersonen für die Mädchen in den Unterkünften. Um sie zu unterstützen, sind auch Schulungen Teil von "Mädchen. Machen. Zukunft." Dort wird den Mitarbeitenden in den Gemeinschaftsunterkünften Wissen zur Lebensrealität von Mädchen und jungen Frauen mit Fluchterfahrung vermittelt. Schulungen zu Traumafolgestörungen, Sexualität im interkulturellen Kontext oder Kinderschutzmaßnahmen für Mädchen mit Fluchterfahrung liefern Hilfestellungen in der täglichen Arbeit mit den Mädchen und jungen Frauen.

Sich gegenseitig helfen und stärken

Einblicke in das Projekt Mädchen.Machen.Zukunft. von Save the Children Deutschland. © Laura Jost

An diesem Freitag hat Francesca auch Nina und Tatiana eingeladen. Die beiden sind erst seit kurzem in Deutschland und sprechen noch nicht so gut deutsch. Beim Mädchentreff kommen sie mit anderen in ihrem Alter zusammen, die sich schon besser auskennen. Zeichnungen überbrücken die Sprachbarriere, Übersetzungen für die wichtigsten Wörter suchen die Mädchen im Internet. Und weil die Smartphones schon einmal ausgepackt sind, zeigen sich die Mädchen gegenseitig Fotos von sich und ihren Freundinnen. Spätestens bei den aktuellen TikTok-Videos haben alle einen gemeinsamen Nenner gefunden, singen mit und machen Tanzschritte vor.

Sich wahrnehmen, sich gegenseitig helfen und unterstützen, der offene Austausch über Gefühle und Wünsche und Wissenszuwachs: Das alles kommt bei "Mädchen. Machen. Zukunft." zusammen. "Die großen Themen bei den Mädchen sind nicht wirklich anders als bei Mädchen ohne Fluchterfahrung. Es geht um Familie und Freunde, Liebe, Körper, Zukunft. Sie stellen sich Fragen wie: Wo soll mein eigener Platz in der Welt sein? Wie kann ich Teil einer Gruppe sein? Wie kann ich ein glückliches Leben führen?", erzählt Trainerin Henrike.

Die Mädchen erfahren durch den Austausch mit Henrike und Lena und in den Workshops mehr über ihre Möglichkeiten und Rechte als junge Frauen in Deutschland. Sie lernen, wie das Schulsystem in Deutschland funktioniert oder welche Sportangebote es außerhalb der Einrichtung gibt. Zurzeit steht Paintball hoch im Kurs, der Radius der Mädchen hat sich längst über das direkte Umfeld der Gemeinschaftsunterkunft hinaus erweitert.

*Namen der Mädchen zum Schutz geändert