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Kinderarmut in DeutschlandPolitische ArbeitPublisher Save the Children21.07.2023Kinderarmut in Deutschland

Bürgergeld: Es braucht weitere Verbesserungen für Kinder

Zum 1. Januar 2023 soll mit der Einführung des sogenannten Bürgergelds eine der größten Sozialreformen der letzten Jahrzehnte in Kraft treten. „Hartz IV“ soll abgelöst und die Grundsicherung in weiten Teilen reformiert werden. Dazu nehmen wir als Kinderrechtsorganisation Stellung und fordern: Die Belange von Kindern müssen deutlich mehr berücksichtigt werden!

Kinder, deren Eltern/ Erziehungsberechtigte auf Geldleistungen angewiesen sind, können oft weniger am gesellschaftlichen Leben teilhaben und sind häufiger von Mangel- und Fehlernährung betroffen. © Caleb Woods / Unsplash

„Hartz IV“ hat Armut nicht konsequent verringert

Fast zwei Millionen Kinder lebten im Juni 2022 in Haushalten, die Leistungen zur Existenzsicherung beziehen. Für sie und in den vergangenen 16 Jahren auch für viele weitere Kinder hat dieses Grundsicherungssystem einen Großteil ihres Alltags und ihrer Zukunftschancen geprägt. „Hartz IV“ zielte eigentlich darauf ab, Armut in Deutschland zu verringern.  Das ist jedoch nicht gelungen und der Begriff wird mehr denn je mit Armut, insbesondere von Familien, und Arbeitslosigkeit in Verbindung gebracht. 

Vor allem in diesen Punkten wurde das „Hartz IV“-System vielfältig kritisiert:

  • Menschen, die schon länger als ein Jahr arbeitslos sind, werden unzureichend in existenzsichernde Beschäftigungen vermittelt.
     
  • Die Antragsverfahren und die Kommunikation mit dem Jobcenter sind zu bürokratisch und häufig schwer verständlich.
     
  • Die gewährten Geldleistungen sind zu niedrig, das bedeutet auch weniger Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
     
  • Sanktionen führen dazu, dass Betroffene weniger als das Existenzminimum zur Verfügung haben.

Stigmatisierung durch „Hartz IV“



Hintergrund „Hartz IV“

Das „Hartz IV-System" steht unter dem Motto des „Fördern und Forderns”. Zum einen soll die Existenz von erwerbsfähigen Menschen in Armutslagen durch Geldleistungen gesichert werden und zum anderen sollen diverse arbeitsmarktpolitische und soziale Angebote dafür sorgen, dass die Menschen möglichst schnell ihre Existenz über Erwerbsarbeit sichern.

Das heißt als Gegenleistung zum Geld, gibt es Mitwirkungspflichten für die Empfänger*innen, wie zum Beispiel die Annahme jeder zumutbaren Erwerbsarbeit oder die Pflicht, eine bestimmte Anzahl an Bewerbungen zu schreiben.

Wird den Pflichten nicht nachgekommen, kommt es zu sogenannten Sanktionen der Geldleistungen/ Leistungsminderungen. Das betrifft auch die Geldleistungen von Eltern und Sorgeberechtigten, aber nicht die Leistungen, die direkt für ihre Kinder vorgesehen sind.

Für viele Menschen bedeutet „Hartz IV“, dass sie an vielem nicht teilhaben können. Damit einher geht oft ein Gefühl mangelnden Respekts und fehlender Wertschätzung, etwa im Kontakt mit dem Jobcenter, aber auch darüber hinaus, sowie Angst vor Leistungsminderungen. Viele erleben dadurch Ausgrenzung und Stigmatisierung. Dies gilt auch für Kinder. 

Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf. Ob Schwimmbad, Musikschule oder Urlaubsreise: Durch die niedrigen Regelsätze haben sie viel weniger Möglichkeiten als andere Kinder. Studien zeigen außerdem, dass eine ausgewogene, gesunde Ernährung mit den dafür vorgesehenen Mitteln kaum möglich ist.

Grundsicherung braucht Neustart

Dass das System der Grundsicherung einen Neustart braucht, finden viele Akteur*innen der Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Politik. Durch den gerade im Parlament beratenen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung des „Bürgergeldes” soll dies geschehen. Erreicht werden soll damit zum Beispiel:

  • dass die Menschen, die Leistungen beziehen, mehr Vertrauen und Respekt erfahren.
     
  • dass die aktuelle Wohnsituation der Menschen in den ersten zwei Jahren des Leistungsbezugs abgesichert ist.
     
  • dass Bürokratie abgebaut und der Weg zu den Leistungen auf diese Weise vereinfacht wird.
     
  • dass die Arbeitsförderung besser wird: Anstatt um jeden Preis in einen – oft sehr prekären – Job zu vermitteln, soll Qualifizierung wichtiger werden.

Diese Ansätze begrüßen wir, denn sie haben das Potenzial, Familien aus der Armut zu holen. Wir finden aber, dass bei der Diskussion um das Bürgergeld die Belange der rund zwei Millionen Kinder im System weiterhin zu kurz kommen.

Verbesserungen für Kinder nötig


Auch beim Bürgergeld muss es heißen: Kinder in den Fokus der Sozialpolitik! Es braucht weitere Änderungen, damit wesentliche Merkmale von „Hartz IV“ wirklich enden und für Kinder im Bürgergeld-Bezug mehr Teilhabe möglich ist.

Eric Großhaus, Advocacy Manager Kinderarmut und soziale Ungleichheit bei Save the Children

Folgende Stellschrauben sehen wir, um Kinder mit dem Bürgergeld besser vor Armut zu schützen:

Regelbedarfe

Trotz beschlossener Erhöhungen der Regelsätze reichten die Beträge noch nicht aus, um Kindern gesellschaftliche Teilhabe und ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen. Für ein Kind unter sechs Jahren stehen 2022 lediglich 93,48 Euro monatlich für Nahrungsmittel zur Verfügung. Das reicht nicht aus und birgt das Risiko von Mangel- und Fehlernährung bei Kindern.

Sanktionen/ Leistungsminderungen

Wenn Empfänger*innen gegen ihre Pflichten verstoßen, kann ihr monatlicher Regelbedarf auch im Bürgergeld um bis zu 30 Prozent gekürzt werden. Derartige Sanktionen erzeugen ein Klima der Angst, denn jede Kürzung bedeutet für die Leistungsberechtigten, dass sie unter dem staatlich anerkannten Existenzminimum leben müssen. Besonders betroffen sind am Ende Kinder: Wenn die Regelbedarfe der Familie gekürzt werden, wirken sich die Sanktionen erheblich auf ihr Leben aus. Im Sinne der Kinder sind wir deshalb für die Beendigung des Festhaltens an Leistungsminderungen.

Unsere Forderungen zum Bürgergeld

Wir sprechen uns dafür aus, …  

  1. Leistungsminderungen in der Existenzsicherung – insbesondere für Haushalte mit Kindern – auszuschließen, denn das Existenzminimum sollte für jeden Menschen und zu jeder Zeit gesichert sein.
     
  2. die Höhe der Regelsätze so anzupassen, dass gesellschaftliche Teilhabe und eine gesunde Ernährung für die Leistungsempfänger*innen möglich sind. Zivilgesellschaftliche Akteure und vor allem auch Kinder sollten bei der Festlegung der Regelsätze miteinbezogen werden. Denn Kinder haben laut der UN-Kinderrechtskonvention das Recht, bei allen Themen beteiligt zu werden, die sie betreffen. Dies sollte in jedem Fall bei der Sicherung ihrer Existenz berücksichtigt werden.
     
  3. bis zur Einführung des Bürgergeldes und der Neuberechnung der Regelbedarfe eine pauschale Aufstockung für Haushalte einzuführen, die auf die entsprechenden Leistungen angewiesen sind. Diese sollte ausreichend hoch sein, um sowohl die momentanen Belastungen durch die Inflation abzufangen, als auch mehr gesellschaftliche Teilhabe und eine gesunde Ernährung für Leistungsberechtigte zu ermöglichen.

Außerdem muss die Bundesregierung mit voller Kraft an der Umsetzung der geplanten Kindergrundsicherung arbeiten, die das Existenzminimum von armutsgefährdeten Kindern abdecken und ihre gesellschaftliche Teilhabe sowie die Chance auf ein gesundes Leben sichern soll.

Unsere fachliche Stellungnahme mit allen Quellen kann hier als PDF heruntergeladen werden:

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