Côte d’Ivoire: 500.000 Kinder auf der Flucht
Mike Sunderland von Save the Children ist derzeit im Osten Liberias. Über 130.000 Menschen sind seit den Ausschreitungen im Nachbarstaat Côte d’Ivoire hierher geflohen. Die Bedingungen für die ankommenden Familien sind miserabel, es gibt nicht genug zu Essen und kaum sauberes Wasser. Lesen Sie hier Mike Sunderlands ersten Blog aus einem Nothilfelager in Bahn, Liberia:
Gleich zu Beginn meiner Reise fallen Schüsse. Man hört sie auf dem Fußballplatz, auf dem Jungs gerade spielen und sich Mädchen im Schatten die Haare flechten. Man hört sie in Klassenräumen, in denen Kinder gerade ihrem Lehrer zuhören. Die Mädchen und Jungen hier sind in Friedenszeiten aufgewachsen und wissen mit den Geräuschen nichts anzufangen. Ihre Lehrer allerdings können sich an den vergangenen Bürgerkrieg noch erinnern: Sie schicken die Kinder nach Hause zu ihren Eltern.
Ein Junge kann seine Eltern nicht finden. Besorgt sieht er auf seine kleine Schwester: sie weint verängstigt.„Vielleicht sind sie auf dem Feld“, meint der Junge, packt seine Schwester an der Hand und läuft los. Überall im Dorf herrscht wildes Durcheinander, die Schüsse kommen immer näher – Familien rennen kreischend aus ihren Häusern. Die Geschwister kommen am Feld ihrer Eltern an, doch dort ist niemand.
Diesen Jungen treffe ich im Flüchtlingslager in Liberia. Sein Name ist Landry, er ist gerade 14 Jahre alt. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt mit mir sprechen kann, nach allem was er durchgemacht hat. Seit drei Monaten hat er seine Eltern nicht mehr gesehen. Landry erzählt mir, dass er mit seiner kleinen Schwester den anderen Flüchtlingen hinterhergelaufen ist. Drei Tage waren sie unterwegs, haben in dunklen Wäldern geschlafen und sich durch reißende Flüsse gekämpft. Hungrig und ohne Schuhe sind sie kilometerweit gelaufen.
Geschichten wie die von Landry hört man hier von vielen Kindern. Gestern kam eine Frau mit einem Mädchen in den Armen in der Notunterkunft an. Sie habe die Kleine verängstigt schluchzend am Straßenrand gefunden. Das Mädchen ist verstört und spricht mit niemandem. Die Frau hat das Mädchen zwei Tage lang hierher getragen. Eine Million Menschen sind seit Beginn der blutigen Kämpfe auf der Flucht, mehr als die Hälfte von ihnen sind Kinder.
Ich weiß, dass Kinder in Krisen wie diesen immer besonders gefährdet sind. Wenn ich mit den Mädchen und Jungen hier spreche, überraschen mich ihre Ruhe und ihr unvorstellbarer Mut. Zwangsläufig muss ich mich daran erinnern, wie ich als Kind beim Einkaufen einmal meine Mutter verloren habe. Ich erinnere mich auch an das unglaublich schöne Gefühl, als sie mich nach wenigen Minuten glücklich weinend wieder in ihre Arme geschlossen hat.
Die Kinder hier haben ihre Mütter seit Wochen oder Monaten nicht gesehen. Sie wissen nicht, ob ihre Mutter sie jemals wieder in ihre Arme schließen wird.