Der Alptraum der jemenitischen Kinder
Fatima Al-Ajel arbeitet bei Save the Children Jemen. Sie ist erst kürzlich nach zweieinhalb Monaten Exil in ihr Heimatland zurückgekehrt. Der Konflikt hatte sie an der Rückkehr gehindert.

Normalerweise, wenn ich auf Geschäftsreise bin, kann ich es kaum erwarten, in mein Heimatland zurückzukehren. Doch die letzte Reise nahm eine dramatische Wendung.
Ich war seit Ende März dieses Jahres für Save the Children in Jakarta, Indonesien gewesen. Am letzten Tag war ich besonders fröhlich, weil ich mich sehr auf meine Heimkehr und auf meine Familie freute, die ich am nächsten Tag wiedersehen sollte. Genau dann erfuhr ich, dass eine saudisch geführte Militär-Koalition einen Luftangriff auf den Jemen starten würde. Ich bekam einen Schock.
Es ist nirgendwo mehr sicher
Ich rief meine Mutter an und konnte nicht glauben, was sie mir erzählte. Sie weinte und war völlig durcheinander: In der Nacht zuvor hatte es über der ganzen Stadt verteilt Bombardierungen und Luftangriffe gegeben. „In Sanaa ist es nirgendwo mehr sicher“, beklagte sie. So begannen meine zweieinhalb Monate im Exil.
Ich weiß, dass ich eine derjenigen bin, die Glück hatte. Save the Children sorgte für mich in Jordanien gut und das Land hat uns Jemeniten gut behandelt.
Also habe ich mich in Amman nützlich gemacht, habe von dort aus mein Team im Jemen geleitet. Meine Mitarbeiter waren so mutig, raus zu gehen und Fotos zu machen und Geschichten aufzuschreiben von unserer Nothilfe-Arbeit vor Ort.
Ich habe in Amman auch eine Initiative gegründet, die andere in Jordanien festsitzende Jemeniten unterstützten und denen es an Nahrung, Unterkunft und Medizin mangelte. Wir etablierten eine Datenbank, um die Grundbedürfnisse der Familien zu ermitteln, und setzten uns mit Geschäftsleuten und anderen Spendern zusammen, um sicherzustellen, dass der Bedarf gedeckt werden konnte. Weil ich damit privat und beruflich so beschäftigt war, hatte ich keine Zeit, mir zu viele Sorgen um die Situation im Jemen zu machen. Ich sprach mit meiner Familie gleich als erstes am Morgen und am Abend vor dem Schlafengehen, um mich zu vergewissern, dass es ihnen gut ging. Dann konnte ich mich wieder auf meine Arbeit konzentrieren. Im Hinterkopf hatte ich immer, dass ich sofort zurückgehen würde, sobald sich die erste Gelegenheit dazu auftäte, um endlich bei meiner Familie sein zu können, in einer Zeit, in der sie mich am meisten brauchte.
Ich fühle mich fast schuldig, wenn ich jetzt manchmal frage, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, zurückzugehen.
“Du kannst nicht vorhersagen, wie Du reagieren wirst”
Irgendwann war es dann soweit: der Flughafen öffnete wieder und ich konnte einen Sitz in einem Flugzeug nach Jemen ergattern. Ich freute mich sehr auf meine Familie und darauf, endlich meinem Land helfen zu können.
In dem Moment, in dem ich in Sanaa landete, fanden vier Luftangriffe auf Faj Attan, Noquam und die Adheen Berge statt. Ich war schockiert. In der Ferne davon zu hören oder sie selbst zu erleben sind zwei völlig unterschiedliche Dinge. Du denkst, dass Du stark sein wirst, aber Du kannst einfach nicht vorhersehen, wie Du reagieren wirst. Die Vorfreude auf Zuhause war mit einem Schlag von Angst und Sorge zerschmettert worden.
Sobald ich zu Hause ankam, packte meine Familie alle Sachen in ein Auto. Dann fuhren wir in ein Dorf, das eine Stunde entfernt von der Stadt war. Die Situation in Sanaa war zu gefährlich, um dort zu bleiben. In diesem Dorf hatte ich keinen Empfang, es gab kein Internet und keine Elektrizität. Ich fühlte mich absolut hilflos: Ich wusste, was in meinem Land los ist, und war nicht mal in der Lage, meiner täglichen Arbeit nachzugehen. In Amman hatte ich wenigstens Menschen helfen und Dinge anpacken können. Hier war ich von allem und jedem abgeschnitten, außer von meiner Familie – und den Bombardierungsgeräuschen.
Traumatisierte Kinder
Die Zeit, die ich mit meinen neun Nichten und Neffen verbrachte, öffnete mir die Augen darüber, wie schwer dieser Krieg auf den Kindern lastet. Sogar in dem Dorf, das weit entfernt von den Luftangriffen lag, weigerten sich die Kinder, das Haus zu verlassen. Wir versuchten sie davon zu überzeugen, dass es gut für sie war, im Garten ein bisschen frische Luft zu schnappen, aber sie sagten nur: „Nein, wir möchten nicht durch ein Flugzeug getötet werden, dass eine Bombe auf uns abwirft.“
Der Sohn meines Bruders ist sechs Jahre alt und immer, wenn er ein lautes Geräusch hört – und wenn es nur ein Türschlagen ist – dann beginnt er zu schreien: „Da kommt ein Flugzeug!“ und flüchtet zu seiner Mutter. Andere Kinder können die verschiedenen Kriegsgeräusche bereits voneinander unterscheiden. Mein anderer Neffe hat durch den Stress, dem er in diesem Alptraum ausgesetzt ist, mittlerweile gesundheitliche Probleme. Meine sieben Jahre alte Nichte hält sich den ganzen Tag lang die Ohren zu. Auch, wenn wir ihr sagen, dass sie die Hände tagsüber von den Ohren nehmen kann, weil die Explosionen nur in der Nacht stattfinden, will sie es trotzdem nicht tun. Sie möchte es einfach nicht hören. Das alles fühlt sich falsch an. Kinder sollten so etwas nicht durchmachen müssen.
Zuhause ist ein Ort der Angst
Nach etwa einer Woche in diesem Dorf konnten wir nach Sanaa zurückkehren. Am ersten Tag nach meiner Heimkehr in die Stadt gab es eine schwere Explosion in der Nähe meines Hauses, weil das Verteidigungsministerium direkt dahinter liegt.
Am zweiten Tag nahm ich all meinen Mut zusammen, um zur Arbeit ins Büro zu gehen. Unsere schöne große Geschäftsstelle war von einem Luftangriff getroffen worden, so dass wir nun alle in einem winzigen Büroraum zusammengepfercht waren. Das war ein trauriges Erlebnis: wir waren nicht nur von unseren Wohnorten, sondern auch von unseren Arbeitsplätzen vertrieben worden. Jedes Mal, wenn wir eine Explosion hören, kauern wir uns in einem Haufen in der Mitte des Raumes zusammen. Es ist wirklich schwierig, sich unter diesen Bedingungen zu konzentrieren. Die Wirklichkeit der Worte meiner Mutter hat mich wie ein Schlag getroffen: Es gibt tatsächlich nirgendwo in ganz Sanaa mehr einen sicheren Ort.
Vielleicht ist es für mich schwieriger als für die anderen, die sich während der letzten zwei Monate schon an das alles gewöhnt haben. Aber Sanaa fühlt sich nicht mehr wie meine Heimatstadt an, sondern fremd. Meine Stadt, in der die Menschen sich sonst warmherzig und offen begegnen, ist nun zu einem Ort der Angst und der Traurigkeit geworden. Jetzt fragt man sich bei jeder Begegnung nur gegenseitig danach, wo das letzte Bombardement stattgefunden hat und wie viele Menschen getötet wurden.
Ich sehne den Tag herbei, an dem die Warmherzigkeit wiederkehrt und die Menschen sich gegenseitig fragen, wie es ihnen geht.
Save the Children im Jemen:
In dem kriegerischen Konflikt im Jemen sind offiziell bislang 2500 Menschen getötet worden, davon 270 Kinder. Über eine Mio. Menschen wurden vertrieben. 21,1 Mio. Menschen brauchen mittlerweile humanitäre Hilfe. Seit März ist die Zahl derer, die nur noch unzureichend mit Nahrungsmitteln versorgt sind, binnen drei Monaten um 2 Mio. auf jetzt 12.5 Mio. Menschen gestiegen. Da der Güterverkehr zu Land, Luft oder Wasser erheblich eingeschränkt ist, ist mit einer dramatischen Verschlechterung der Situation zu rechnen.
Save the Children ist seit vielen Jahren im Jemen durch verschiedene Projekte v.a. im Gesundheitssektor und Kinderschutz involviert. Zusammengenommen mit den seit dem Konflikt etablierten Nothilfeprogrammen haben wir bis jetzt (24. Juni 2015) 143.398 Menschen helfen können, davon 74.595 Kindern. In der akuten Krise verteilen wir Nahrungsmittel, Hygiene-Sets und Medikamente