"Digitale Bildung wurde in Deutschland lange Zeit sträflich vernachlässigt."
Bildung ist eines der Kernthemen, für dass sich Save the Children stark macht. Doch nicht zuletzt die Corona-Pandemie offenbart: Gerade um digitale Bildung steht es in Deutschland schlecht. Dr. Melanie Stilz, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Berlin und Leiterin des Forschungsbereichs 'Technik und Wissen', erzählt im Interview von den Herausforderungen und möglichen Lösungsansätzen.
Wir leben in einer zunehmend digitalen Welt. Warum ist es wichtig, dass Kinder ein Grundverständnis für digitale Abläufe und Zusammenhänge entwickeln?
Dr. Melanie Stilz: Kinder sollen nicht zum passiven Akteur innerhalb der digitalen Abläufe werden. Sie sollen sie mitgestalten, kritische Fragen stellen und selbstbestimmt in dieser digitalen Welt leben.
Wir müssen Dinge nicht besser machen als Maschinen oder mit ihnen in Konkurrenz treten. Aber wir müssen lernen und verstehen, was uns ausmacht und wie wir digitale Mittel und Möglichkeiten zum Nutzen aller einsetzen können. Dafür müssen wir verstehen, wie die Systeme funktionieren, die uns umgeben und schon heute fast alles um uns herum steuern.
Die Nutzung von Computern und digitalen Medien an deutschen Schulen ist im internationalen Vergleich weiterhin unterdurchschnittlich. Was muss sich ändern?
Dr. Melanie Stilz: Das Thema digitale Bildung wurde in Deutschland lange Zeit sträflich vernachlässigt. Es fehlt eine gute Infrastruktur, etwa ein Internetzugang und notwendige Geräte. Das trifft besonders Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen und benachteiligten Gruppen. Sie haben auch beim algorithmischen Denken, also dem Verständnis dafür, wie Abläufe im Computer funktionieren, deutliche Defizite. Oft hängt das damit zusammen, wie das Elternhaus das Thema behandelt und wie Eltern Mediennutzung begleiten. Corona verschärft die Situation nun zusätzlich. Während der Schulschließungen waren bis zu einem Drittel der Schulkinder gar nicht erreichbar, unter anderem, weil sie zuhause keine Arbeitsgeräte wie Laptop oder Tablet haben oder eine ausreichend schnelle Internetverbindung fehlt. Umfragen haben darüber hinaus gezeigt, dass Schulkinder aus privilegierten Haushalten (bildungsnahen Familien) durch die Schulschließungen kaum Nachteile hatten, während Kinder aus marginalisierten Gruppen größte Schwierigkeiten hatten, überhaupt etwas mitzunehmen. Mittlerweile schaffen viele Schulen zumindest die Hardware an. Doch um ein Grundverständnis für digitale Abläufe zu erlangen, reicht es nicht aus, nur auf der Nutzerebene zu agieren.
Die Corona-Pandemie offenbart den schlechten Zustand digitaler Bildung in Deutschland. Vor welchen Herausforderungen stehen die Bildungsakteure?
Dr. Melanie Stilz: Natürlich ist es wichtig, dass alle Schulen am Breitbandinternet angeschlossen sind, überall flächendeckend WLAN vorhanden ist, jedes Kind ein Gerät zum Arbeiten hat und die Lehrkräfte wissen, wie man eine Online-Lernplattform benutzt. Aber es wäre ein großer Trugschluss zu denken, dass wir damit schon im digitalen Lernen angekommen sind. Diese Art von Lernumgebung sagt noch nichts darüber aus, ob Schülerinnen und Schüler die Zusammenhänge verstehen, ob sie wissen, wie sie kreativ und selbstbestimmt digitale Technologien einsetzen können. Die Schulen brauchen pädagogische Konzepte und entsprechende Fortbildungen. Trotzdem ist es jetzt richtig und wichtig, von den Schwächsten auszugehen und eine Minimalerreichbarkeit für eine mögliche zweite Welle zu gewährleisten. Dafür brauchen die Schulen zunächst Geräte, Software und Wartungskonzepte. Doch danach muss es weitergehen.
Im Projekt MakerSpace unterstützt Save the Children Schulen in strukturell benachteiligten Stadtteilen, dank der Unterstützung von Capgemini und anderen Unternehmenspartnern. Inwieweit ermöglicht das Projekt allen Schülerinnen und Schülern gleiche Chancen?
Dr. Melanie Stilz: Die schönen bunten Oberflächen, die man von Computerspielen oder Videos kennt, spielen keine große Rolle. Es ist ein sehr offener Kontext, der Fehler einfordert und gleichzeitig die Möglichkeit bietet, sich in einem weniger komplexen Umfeld mit digitalen Mitteln auszuprobieren. Dafür gibt es sogenannte Einplatinencomputer, die mit sehr vereinfachter Hardware arbeiten. Man hat nicht diese Blackbox, die ein Tablet oder Smartphone darstellt. Bei einem Einplatinencomputer lässt sich relativ leicht durchschauen, welches Bauteil welche Funktion hat. So erschließen sich junge Menschen auf einer recht einfachen Ebene grundlegendes Wissen über die Funktionsweise von digitalen Systemen.
Die Gegner der digitalen Bildung weisen auf die Gefahr der Mediensucht und Einschränkungen von sozialen Erfahrungen hin. Können Sie diese Bedenken verstehen?
Dr. Melanie Stilz: Wer der digitalen Bildung kritisch gegenübersteht, dem würde ich sagen: Kenne deinen Feind. Wenn ich nicht weiß, wie die digitale Welt um mich herum funktioniert, bin ich nur ein Nutzer, der sich berieseln oder Anweisungen geben lässt, der sich nicht zur Wehr setzen und keine Entscheidungen treffen kann.
Kann die Corona-Pandemie die Digitalisierungsprozesse in den Bildungseinrichtungen beschleunigen?
Dr. Melanie Stilz: Ich möchte Corona als Chance sehen. In den meisten Schulen gibt es eine relevante Zahl an engagierten Lehrkräften, die sagen, wir brauchen jetzt nicht irgendwas, sondern es muss didaktisch Sinn machen, wir müssen weg vom Frontalunterricht hin zu interaktiven Gruppen. Es bedeutet auch weg von der reinen Bewertung in Noten, stattdessen müssen Prozesse beurteilt und Kompetenzen wertgeschätzt werden. Das hat mir Hoffnung gemacht, dass die Krise eine Veränderung anstoßen kann, die nicht nur auf Infrastruktur und Ausstattung abzielt. Denn was wir brauchen, ist eine zeitgemäße Bildung, die Kinder und Jugendliche zu mündigen Bürgerinnen und Bürger in einer digitalisierten Welt macht. Sie müssen wissen, was mit ihren Daten passiert, wer sie überwacht, von welchen Systemen sie abhängig sind, wie sie Prozesse beeinflussen und lenken können. Und wie sie selbst ihre digitale Zukunft mitgestalten können.