Ein Koalitionsvertrag, der Hoffnung macht?
Die Ernennung der neuen Bundesregierung fällt in eine herausfordernde Zeit: Eine Zeit, die geprägt ist von den Folgen der Klimakrise und einer anhaltenden Pandemie. Die Pandemie hat nicht nur Armut und Ungleichheit weltweit verstärkt, sondern auch wie ein Brandbeschleuniger in manchen humanitären Konflikten gewirkt. Diesen Krisen muss die neue Regierung ambitioniert entgegenwirken, damit alle Kinder ihr Recht auf ein sicheres, gesundes Leben verwirklichen können.

Am 8. Dezember 2021 wurde das neue Personal der Bundesregierung vereidigt, darunter die Bundesminister*innen, Staatssekretär*innen und natürlich an ihrer Spitze Olaf Scholz als neuer Bundeskanzler. Was wir der neuen Regierung von Beginn an vermitteln möchten: Wer eine gute Zukunft für Deutschland will, muss die nachhaltige Entwicklung weltweit und eine starke humanitäre Hilfe im Blick haben. Die Klimakrise und die Pandemie stellen uns vor neue Herausforderungen und haben in vielen Bereichen zu Rückschritten geführt. Nun bedarf es besonderer Anstrengung, um globale Ungleichheiten zu bekämpfen.
Ganz konkret bedeutet das: Die neue Ampelregierung hat die Macht und die Möglichkeit, neue Wege zu finden, sich gegen Spiralen der strukturellen Ungleichheiten für Familien und Kinder weltweit und in Deutschland einzusetzen. Dadurch kann sie Kinderrechte stärken und unter dem Leitprinzip "Leave No One Behind" – zu Deutsch "Niemanden zurücklassen" – benachteiligten Bevölkerungsgruppen eine Zukunft und eine Stimme geben.
Save the Children schaut der bevorstehenden Legislaturperiode hoffnungsvoll entgegen. Hoffnung, die sich auch aus dem Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung nährt. Diesen haben wir im Hinblick auf das Vorhaben der neuen Staatsvertreter*innen durchkämmt, sich für eine bessere Welt für Kinder einzusetzen. Wie sind Kinder und ihre Anliegen nun in dem neuen Koalitionsvertrag vertreten?
Kinder in Deutschland: Bildung priorisieren
Insgesamt sind Kinder an 83 Stellen im Koalitionsvertrag erwähnt. Das ist schon einmal ganz beachtlich. In einem Dokument von 178 Seiten bedeutet das, dass Kinder im Durchschnitt auf etwa jeder 2. Seite erwähnt wurden. Sehr gefreut haben wir uns über die Wiederaufnahme des Plans, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen.
Die neue Regierung hat sich außerdem vorgenommen, eine Kindergrundsicherung einzuführen, um besonders Kinder aus einkommensschwachen Familien künftig besser zu unterstützen. Dadurch soll das Angebot an frühkindlicher Bildung und Betreuung verbessert sowie der Kinderschutz gestärkt werden. Das sind erst einmal positive Vorhaben.
Offen ist, wie die Umsetzung dieser teilweise ambitionierten Pläne aussieht, insbesondere, da der Bund teilweise stark auf die Unterstützung der Länder angewiesen ist. Die Förderung der Digitalisierung im Bildungsbereich nimmt viel Raum ein im Koalitionsvertrag – hier hat die Pandemie immer wieder gezeigt, wie viel Aufholbedarf bestand und nach wie vor besteht. Wir hoffen, dass die versprochenen Fortschritte, die sich hinter oftmals sperrig wirkenden Begriffen wie "digitale Lernmittelfreiheit" verbergen, tatsächlich eintreten werden.

Starke Gesundheitssysteme fördern
Spätestens seit der Corona-Pandemie zeigt sich in besonders deutlichem Maße die Bedeutung von Gesundheits- und Ernährungssystemen für die globale Gesundheit und das Funktionieren von Staaten. Dabei ist Deutschland zunehmend zu einem der führenden Akteure in der globalen Gesundheitspolitik geworden. Daran gilt es, in den kommenden Jahren anzuknüpfen. Denn noch immer hat über die Hälfte der Weltbevölkerung keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung. Und Kinder leiden darunter besonders. Das Signal sollte hier sein, globale Gesundheit auch über die Bewältigung der Pandemie hinaus in der deutschen Politik zu priorisieren und dies im besten Fall auch im Koalitionsvertrag zu verankern.
Kinder vor den Folgen der Klimakrise bewahren
Die neue Bundesregierung plant, Klimaschutz, Klimaanpassung und Entwicklung stärker zu verknüpfen. Bislang liegt der Schwerpunkt hier jedoch allein auf dem Schutz des Klimas. Details zu den Klimaanpassungsmaßnahmen und ihren konkreten Instrumenten bleiben daher abzuwarten. Erfreulich ist, dass Klimafinanzierung zusätzlich zur Entwicklungsfinanzierung erhöht werden soll. Denn was nicht passieren darf, ist, dass Klimafinanzierung die Budgets der anderen wichtigen Bereiche für Kinder schwächt.
Humanitäre Hilfe ausbauen
Deutschland ist zweitgrößter Geber weltweit im Bereich der humanitären Hilfe und bekennt sich auch unter der neuen Bundesregierung wieder zu der globalen Verantwortung im Bereich der humanitären Hilfe. Die Ampelregierung möchte den Einfluss der Menschen vor Ort steigern – auch als Lokalisierung bezeichnet. Im Rahmen dieser Lokalisierung strebt sie eine Verzahnung der Maßnahmen in den Bereichen humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung an – das bewerten wir als positiv.
Wir begrüßen in diesem Zusammenhang auch die Ankündigung, dass der Anteil flexibler Mittel, also Finanzierungsmittel, die flexibel und bedarfsorientiert eingesetzt werden können, maßgeblich erhöht werden soll.
Bildung und Kinderschutz werden allerdings nicht als spezifische Bereiche benannt. Kinder sind aber weltweit von Krisen überproportional betroffen, sei es durch Bombardierungen, durch den Verlust ihrer Heimat oder von Bildungsmöglichkeiten. Sie zu stärken, sollte daher ein zentraler Bestandteil der humanitären Hilfe sein – hier gibt es noch Diskussionsbedarf.

Kinder auf der Flucht schützen und stärken
Geflüchtete und migrierte Kinder sind besonders auf Schutz und Unterstützung der Bundesregierung angewiesen. Die neue Bundesregierung verspricht verschiedene Änderungen im Bereich der Migrations- und Fluchtpolitik und für Europa gar einen "Neuanfang". Es ist grundsätzlich sehr erfreulich zu sehen, dass das Thema Asylpolitik diesen Stellenwert hat. Gleichzeitig sind viele der genannten Ziele noch nicht klar genug umrissen oder es bleibt unkonkret, wie sie erreicht werden sollen. Das liegt vor allem daran, dass die Bundesregierung hier stark auf die Mitwirkung anderer Akteure wie den Bundesländern oder auf europäischer Ebene den anderen Mitgliedsstaaten angewiesen ist.
Positiv zu bewerten ist, dass die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Rechte von Kindern explizite Erwähnung finden, zum Beispiel der frühe Zugang zu Bildung und der Ausbau psychosozialer Betreuung. Zudem ist das im Koalitionsvertrag vorgeschlagene Partizipationsgesetz eine Chance, die Mitgestaltungsmöglichkeiten geflüchteter und migrierter Kinder von Anfang an gesetzlich zu verankern.
Im Bereich des Familiennachzugs wurden mit den neuen Koalitionsvereinbarungen Meilensteine erreicht: Die gesetzlichen Verschärfungen der letzten Jahre sollen rückgängig gemacht werden und Kinder sollen künftig zu ihren minderjährigen Geschwistern nachziehen dürfen. Das ist ein großer Erfolg und bedeutet, dass seit langem getrennte Familien nun hoffentlich bald schnell und einfach zusammenfinden können. Save the Children wird die weitere Ausgestaltung der Regelung vor allem in diesem Bereich eng begleiten.
Wir begrüßen zudem ausdrücklich, dass sich die neue Regierung zur Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention, der europäischen Menschenrechtskonvention sowie des Grundgesetzes gegenüber Geflüchteten bekennt. Im Hinblick auf die Situation an den europäischen Außengrenzen beinhalten die Ampelvereinbarungen ein klares Bekenntnis zur Beendigung von Push-Backs und einem fairen, solidarischen europäischen Asylsystem.
Es ist dabei insbesondere erfreulich, dass die neue Regierung Bemühungen ankündigt, die Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems auf EU-Ebene voranzutreiben. Auch wenn an einigen Stellen eine deutlichere Positionierung und schärfere Herausarbeitung hinsichtlich der besonderen Rechte und Schutzbedarfe von Kindern wünschenswert wäre, sehen wir in den Absichtserklärungen der Ampelregierung einen modernen und wertvollen Neuanfang der deutschen Flucht- und Migrationspolitik.
Globale Ernährungskrise gemeinsam abwenden
Der Ansatz der Ampel entspricht weitestgehend dem bisherigen Vorgehen der Sonderinitiative "Eine Welt Ohne Hunger", in Anlehnung an das zweite nachhaltige Entwicklungsziel der Agenda 2030. Ernährungssicherheit und der Zugang zu sauberem Trinkwasser sollen mit nachhaltigen landwirtschaftlichen Ansätzen sowie Wissens- und Technologieaustausch gefördert werden. Gleichzeitig müssen kleinbäuerliche Betriebe gestärkt werden. Es wird zudem auf die deutsche und europäische Handelspolitik verwiesen, die mit entwicklungspolitischen Maßnahmen und Zielen einhergehen soll – wie genau, bleibt jedoch unkonkret.
Entwicklungsfinanzierung: Bekennung zum 0,7-Prozent-Ziel
Der Koalitionsvertrag verspricht eine kontinuierliche und verlässliche Finanzierung der Entwicklungszusammenarbeit. Es ist erfreulich, dass sich Save the Childrens Empfehlung und damit die internationale Messlatte im Koalitionsvertrag wiederfindet: Mindestens 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für offizielle Entwicklungszusammenarbeit (ODA – Official Development Assistance) möchte die neue Bundesregierung zur Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung von Entwicklungsländern aufwenden. Das sogenannte 0,7-Prozent-Ziel wurde bereits 1970 von den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen verabschiedet. Seitdem hat Deutschland sein Versprechen jedoch nur zweimal eingehalten. Die Aufnahme dieses Ziels im Koalitionsvertrag lässt hoffen, dass sich die neue Regierung zu ihrer Verpflichtung bekennt. Zudem sollen die Mittel für Länder mit niedrigem Einkommen auf 0,2 Prozent des Bruttonationaleinkommens gesteigert werden.