Projektreportage: Ein starkes Team für starke Kinder
Psychische Stabilität für Kinder im Kita- und Grundschulalter schaffen, deren Leben durch Belastung und Stress beeinträchtigt ist: Das ist das Ziel unseres Projektes 'Kinderleicht – Kinderstark'. Kathleen Fietz hat die Kita Regenbogen in Berlin vor COVID-19 besucht, in der das gesamte Kita-Team am Projekt teilnimmt. Ihre Reportage zeigt, wie das Projekt bei den Kindern, Erzieher*innen und Eltern wirkt.
Fluchterfahrungen, Armutsrisiken und ungenügende Deutschkenntnisse: Viele Kinder der Kita Regenbogen und ihre Familien haben täglich mit besonderen Herausforderungen zu kämpfen. Um diese Kinder besonders zu stärken und zu unterstützen, nimmt das gesamte Kita-Team am Projekt „Kinderleicht – Kinderstark“ teil. Umgesetzt wird das Projekt von Save the Children Deutschland, gefördert durch den Projektpartner IKEA.
Einige Kinder sitzen noch etwas müde im Buggy, während ihre Eltern sich lachend begrüßen. Man kennt und umarmt sich, es wird gelacht und gescherzt – man hört Deutsch und Türkisch durcheinander. Es ist kurz vor acht und die große, offene Eingangshalle der Kita Regenbogen füllt sich langsam. Erzieherinnen tragen in einem Buch ein, welche Kinder ankommen, und sprechen kurz an den Stehtischen mit einigen Müttern und Vätern, die dann gemeinsam mit ihren Kindern über die breite Holztreppe hoch in den ersten Stock gehen.
Kita-Arbeit bedeutet immer auch Sozialarbeit
Das Projekt
'Kinderleicht – Kinderstark. Psychosoziale Unterstützung für Kinder mit belastenden Erfahrungen' schafft psychische Stabilität für Kinder im Kita- und Grundschulalter, deren Leben durch Belastung und Stress beeinträchtigt ist. Während der Teilnahme am Projekt werden Pädagogische Fachkräfte qualifiziert, um Anzeichen und Verhaltensweisen von Stressbelastung zu erkennen, zu deuten und adäquat darauf zu reagieren. Sie können Kindern Stabilität und Schutz bieten, ihnen ein gutes Lernen ermöglichen und so letztendlich ihre Bildungschancen erhöhen.
135 Kinder werden hier in der Kita Regenbogen betreut. Der moderne, weiße, lichtdurchflutete Neubau mit den vielen bodentiefen Fenstern wurde 2017 mitten im Märkischen Viertel im Berliner Norden gebaut. 3.000 Quadratmeter umfasst das Grundstück, vorn blickt man auf das große Außengelände und dahinter die Hochhäuser des Viertels. 37.000 Menschen aus mehr als hundert Nationen leben hier auf etwas mehr als drei Quadratkilometern. Mehr als 60 Prozent der Kinder sind laut Sozialraumanalyse des Bildungsverbunds Märkisches Viertel von Armut betroffen. Hier bedeutet Kita-Arbeit immer auch Sozialarbeit.
Aber es gibt auch eine andere Seite des Märkischen Viertels. Die sieht man, wenn man auf der großzügigen Terrasse an der Rückseite des Kita-Gebäudes steht und der Blick ins Grüne geht. So vielfältig wie die Umgebung sind auch die Familien, deren Kinder hier betreut werden.
Am Frühstückstisch kommen alle zusammen
Im ersten Stock füllen sich langsam die beiden großen Tische im Frühstücksraum. Jeden Morgen frühstücken hier einige Mütter und Väter gemeinsam mit ihren Kindern. Alle können sich selbst am Buffet bedienen, ein Erzieher schenkt gemeinsam mit einer Hauswirtschaftskraft und der zweiten Kita-Leiterin Iris Haak den Eltern Kaffee aus. „Ich komme immer mit zum Frühstück, wenn ich morgens freihabe“, erzählt ein Vater, der mit seiner Frau und seinen Zwillingen an dem Tisch gemeinsam frühstückt. Neun Mütter und drei Väter sind gerade da, immer wieder kommen neue hinzu und andere gehen. Alle duzen sich.
Die Idee für das Frühstück gab es schon kurz nach der Eröffnung der Kita, aber durch die Teilnahme am Projekt „Kinderleicht – Kinderstark“ von Save the Children Deutschland wurde das Frühstücks-Konzept immer wieder nachgebessert. „Unser Interesse ist es natürlich, die Kompetenzen der Kinder zu fördern, also dass sie sich selbst ihr Frühstück vom Buffet nehmen. Aber wir haben gemerkt, dass wir einige Eltern damit verletzen, wenn wir ihnen sagen, dass sie ihren Kindern nicht helfen sollen. Deren Lebenswelt ist eine völlig andere als unsere und zu ihrer Kompetenz gehört es ganz klar, dass sie ihren Kindern das Frühstück machen. Und so etwas müssen wir unbedingt ernst nehmen, wenn wir die Eltern erreichen wollen“, erklärt Iris Haak.
Besonderer Schutz und Stabilität für Kinder
Darum geht es im Kern in dem auf zwei Jahre angelegten Projekt „Kinderleicht – Kinderstark“: Kinder zu unterstützen, indem Erzieherinnen und Erzieher ihre Lebenswelt und die ihrer Eltern besser kennenlernen und dafür qualifiziert werden, Stressbelastungen bei Kindern frühzeitig zu erkennen und adäquat darauf zu reagieren. So sollen vor allem Kindern mit belastenden Erfahrungen ein besonderer Schutz und Stabilität vermittelt werden. „Unsere größte Herausforderung sind die Sprachbarrieren. EinigeEltern und Kinder waren durch Flucht lange getrennt, es gibt viele Familien in Armutslagen und wir haben auch Eltern mit Drogenproblemen. Auf all diese Kinder müssen wir besonders eingehen“, erklärt Melanie Schöps die besonderen Problemlagen „ihrer“ Kita-Kinder.
Bedarfsanalyse und Supervision
Am Anfang des Projekts „Kinderleicht – Kinderstark“ stand in der Kita Regenbogen 2018 eine Bedarfsanalyse, die eine Prozessbegleiterin gemeinsam mit einem siebenköpfigen Team aus Kita-Mitarbeitenden erstellte. Daraus entstand die Idee, die Projektarbeit mit einer Supervision zu beginnen. Das Team, das sich in dieser Zeit noch im Findungsprozess befand, sollte gestärkt werden, sich besser kennenlernen und gemeinsam eine Offenheit für die geplanten Fortbildungen entwickeln. An den sechs Supervisions-Sitzungen nahm das gesamte Team – inklusive der Hauswirtschaftskräfte – teil. Es kristallisierten sich drei Dinge heraus, mit denen Fachkräfte, die Leitungen und vor allem auch die Kinder unzufrieden waren und die das Team gern umgestalten wollte:
- Die Organisation des Mittagessens
- die Pausenregelungen für das Team
- und die Absprache zwischen den Erzieherinnen und Erziehern am Nachmittag, wenn sich die Kinder sowohl im Außenbereich als auch drinnen aufhalten.
„Das Projekt kam für uns genau zum richtigen Zeitpunkt. Wir waren gerade dabei, uns als Team zu finden“, erzählt Melanie Schöps.
Angesichts des vielerorts vorherrschenden Erziehermangels ist es den beiden Leiterinnen besonders wichtig, ein starkes Team mit zufriedenen Kolleginnen und Kollegen und wenig Fluktuation zu haben. „Wir können Kindern und ihren Familien nur Stabilität und Struktur geben, wenn wir diese auch als Team haben“, erklärt Melanie Schöps. Durch die Supervision sei das Team enger zusammengewachsen. Zwischen den Kolleginnen und Kollegen entstanden neue Wege der Kommunikation. So treffen sich jetzt jeden Morgen um 9.15 Uhr die Gruppen-Erzieherinnen und -erzieher zum „Meet and Greet“, um gemeinsam den Tag zu besprechen. Außerdem wurden zum Beispiel Formate wie die „Bunte Stunde“ geschaffen, in der sich die beiden festen pädagogischen Fachkräfte einer Gruppe einmal wöchentlich für eine Stunde für Fallbesprechungen oder die Vorbereitung von Elterngesprächen zusammen zurückziehen können.
Kinder können selbst entscheiden
Das Frühstück im ersten Stock ist vorbei. Die Kinder gehen in ihre Gruppen, später können sie entscheiden, ob sie in einem anderen Gruppenraum spielen wollen oder sich im Bewegungsraum oder Bälleparadies austoben wollen. Diese Freiheit der Kinder, zu entscheiden, wo sie sich aufhalten wollen, gehört zum teiloffenen Konzept der Kita. Ein paar Eltern entscheiden spontan, im Bewegungsraum gemeinsam mit ein paar Kindern zu tanzen. In dem großen, mit Girlanden geschmückten Raum fassen sich Väter, Mütter, Mitarbeitende und die beiden Leiterinnen für den traditionellen türkischen Halay-Tanz an den Händen. Sie tanzen zu Hits des türkischen Popmusikers Tarkan, die Kinder toben vor ihnen, schwenken Tücher und spielen Fußball. „Das Tanzen ist eine Sprache, die uns verbindet. Hier können uns die Eltern etwas beibringen. Sie zeigen uns die Tanzschritte und damit einen Teil ihrer Lebenswelt“, erklärt die Sozialarbeiterin Tina Wiethüchter.
Enger Austausch mit Sozialarbeiterin
Tina Wiethüchter spielt eine besondere Rolle in der Kita Regenbogen. Sie scheint immer überall zu sein, beim Frühstück, in den Gruppen, im Gespräch mit den Eltern oder einer Erzieherin und beim Spielen mit den Kindern. Ihr Schreibtisch befindet sich für alle sichtbar im hinteren Teil der großen Eingangshalle, so ist sie immer für alle ansprechbar. Ein Ergebnis von „Kinderleicht – Kinderstark“ sind mehr Zeitfenster, in denen sich Erzieherinnen und Erzieher mit Tina Wiethüchter besprechen können – über Kinder, deren Familien oder eigene Anliegen, die ihre Arbeit betreffen.
Verständnis für Eltern wichtig
Im Rahmen des Projekts gab es neben der Supervision auch drei Fortbildungstage für das gesamte Kita-Team zu den Themen unterschiedliche Familienkulturen, Familien in Armutslagen und vorurteilsfreie Erziehung. Diese Themen hatten sich als zentrale Arbeitsschwerpunkte bei der Bedarfsanalyse herauskristallisiert. „Mir hat das total viel gebracht, ich kann auf die Eltern jetzt viel besser eingehen. Und wenn ich ihnen rüberbringe, dass ich Verständnis für sie habe, öffnen sie sich auch. Ich bin sehr glücklich und stolz auf diese Vertrauensbasis mit den Eltern“, erzählt Sandra Grzyb, eine Erzieherin aus dem Krippenbereich. Durch das Projekt „Kinderleicht – Kinderstark“ ist nicht nur das Kita-Team enger zusammengewachsen, die Sensibilität für die Lebenswelten der Familien und Probleme der Kinder wurde verstärkt und Sprachbarrieren abgebaut. „Ich war schockiert, in der Fortbildung zu erfahren, von wie wenig Geld Hartz IV-Familien leben müssen. Das war mir wirklich nicht bewusst. Davor habe ich oft gesagt, die paar Euro müssen doch drin sein, wenn Eltern zum Beispiel ewig keine neuen Windeln mitbringen“, erzählt ihre Kollegin Myriam Henriquez Maldonado. Dem Leitbild der Kita „Gleich ist nicht gerecht“ folgend, sponsert die Kita in solchen Fällen auch mal Windeln oder andere Dinge, für die Eltern das Geld nicht aufbringen können.
Vorschulkinder mit besonderer Rolle
Inzwischen ist Mittagszeit in der Kita Regenbogen! Zehn Vorschulkinder binden sich stolz kleine weiße Kochschürzen um. Sie sind heute die „kleinen Köche“. Jeden Tag werden alle Vorschulkinder gefragt, wer bei den „kleinen Köchen“ mitmachen möchte. Sie decken den Tisch für die Gruppen und geben das Essen aus. „Die Idee dahinter ist, dass die Kinder im letzten Kita-Jahr noch einmal eine besondere Aufgabe haben, um Selbstwirksamkeit zu erfahren“, sagt Melanie Schöps. Das Kinderrestaurant der Kita wurde vor etwa einem Jahr umgestaltet, verbunden mit der Neuorganisation des Mittagessens – ein Ergebnis der Supervision.
Rituale sind wichtig
„Es war hier anfangs immer ein Durcheinander und total laut, es gab keine Rituale und nie richtig Ruhe zum Essen“, erzählt Melanie Schöps. Das ist kaum noch vorstellbar, wenn man sieht, wie ruhig jetzt die ersten Kinder an den Tischen sitzen und die „kleinen Köche“ Nudeln und Bolognese verteilen. Die Einzeltische von früher wurden zu zwei großen Tischinseln zusammengeschoben und der Raum neu gestaltet und dekoriert. Früher kamen immer drei Gruppen gleichzeitig und jedes Kind konnte sich hinsetzen, wo es wollte. Jetzt essen nur noch zwei Gruppen zur selben Zeiten und sitzen gemeinsam mit ihren Erzieherinnen und Erziehern an einer der großen Tischinseln. „Die Kinder sind dadurch viel entspannter, essen viel ruhiger und besser. Wir schmeißen auch viel weniger weg als früher“, erzählt Iris Haak.
Das Teilprojekt „Raum“ von „Kinderleicht – Kinderstark“ widmet sich der kindgerechten Gestaltung von Räumen der Kita, um die psychische Stabilität der Kinder zu fördern. Innerhalb dieses Projektes gibt es in der Kita Regenbogen schon den nächsten Veränderungsplan: Der Personalraum soll so umgestaltet werden, dass sich Erzieherinnen und Erzieher dort ab und zu kurz eine Auszeit nehmen und sich informell begegnen können. Und das wird bei dem engagierten Team nicht die letzte Neuerung sein. „Die Veränderungen bei uns gehen ständig weiter, ‚Kinderleicht – Kinderstark‘ hat dafür eine gute Ausgangsbasis geschaffen“, erklärt Melanie Schöps.