„Es ging nur ums Überleben“ – Bericht einer Zeitzeugin zum Kambodscha-Jahrestag
Am 17. April 1975 übernahm Pol Pot, „Bruder Nummer 1“ und Anführer der Roten Khmer, gewaltsam die Macht in Kambodscha. Sein Ziel: ein kommunistischer Arbeiter-und-Bauern-Staat. Mindestens 1,7 Millionen Menschen fielen in fast vier Jahren seiner Schreckensherrschaft zum Opfer. Sie verhungerten oder starben an Krankheiten, wurden auf sogenannten „Killing Fields“ erschossen oder zu Tode gefoltert. Vichuta Ly hat diesen grausamen Konflikt als Kind überlebt – auch dank Save the Children. Sie hat uns ihre Geschichte anvertraut.
Vichuta Ly war 9 Jahre alt, als Soldaten der Roten Khmer in ihrer Heimatstadt Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas, einmarschieren. Die Rote Khmer betrachten die bürgerlichen und gebildeten Bewohner der Stadt als „Feinde der Revolution“. Ihre Ideologie sieht keinen Privatbesitz vor, Geld wird abgeschafft, Bildung, Religion und westliche Medikamente werden strikt abgelehnt. Innerhalb weniger Tage werden die rund zwei Millionen Einwohner der Stadt zur Umerziehung und Zwangsarbeit aufs Land gezwungen. Unter ihnen sind Vichuta Ly und ihre Familie. Ihr Vater, Justizminister und gläubiger Buddhist, verschwindet gleich zu Beginn des Pol-Pot-Regimes.
Hunger und Zwangsarbeit
Vichuta Lys Familie irrt drei Jahre über das Land. Sie wird von Ort zu Ort getrieben und gezwungen auf Reisfeldern zu arbeiten oder Dämme zu bauen. Die Roten Khmer unterscheiden nicht zwischen Mann, Frau, jung oder alt - alle müssen dieselbe Arbeit leisten. Wer nicht folgt, wird von den Aufsehern geschlagen. Vichuta Lys Schwester überlebt die Tortur nicht, sie stirbt an Krankheit und Erschöpfung. Sie selbst wird parallel zur erzwungenen Feldarbeit zur Kindersoldatin ausgebildet, muss täglich mit Waffenattrapen aus Holz trainieren. Hunger wird ihr allgegenwärtiger Begleiter. Um zu überleben, stiehlt sie Essen, wann immer es ihr gelingt.
Ein neues Leben in Thailand und Kanada
Von den ursprünglich 35 Familienmitgliedern überleben nur fünf. 1979 gelingt ihnen die Flucht nach Thailand. Im Flüchtlingslager Sao Keao lernt Vichuta Ly Anne Watts kennen, eine britische Krankenschwester, die dort für Save the Children im Einsatz ist. Zwischen den beiden entwickelt sich eine besondere Freundschaft. Anne Watts nimmt das neugierige Mädchen unter ihre Fittiche. Jeden Morgen holt sie Vichuta Ly mit ihrem Fahrrad ab. Das Mädchen begleitet die Krankenschwester bei ihrer täglichen Arbeit, übersetzt die Beschwerden der Patienten in der Klinik. Damit die beiden besser kommunizieren können, schenkt Anne Vichuta Ly ein englisches Wörterbuch.
Das Wörterbuch besitzt Vichuta Ly heute noch. Mit Anne Watts verbindet sie eine lebenslange Freundschaft. Die Begegnung mit ihrer älteren Fürsprecherin sowie ihre eigenen guten Sprachkenntnisse markieren in Vichuta Lys Leben die Wendung zum besseren. Als der damalige kanadische Botschafter das Flüchtlingscamp besucht, kann Vichuta Ly ihn auf Französisch ansprechen und ihm von der Tragödie ihrer Familie berichten. So gelangen die fünf Überlebenden über ein Umsiedlungsprogramm nach Kanada. Vichuta Ly macht dort ihren Schulabschluss, studiert Jura und gründet schließlich ihre eigene Organisation, um sich für Frauen und Kinder in Notsituationen einzusetzen.
Rückkehr nach Kambodscha
20 Jahre nach dem Verlassen ihrer Heimat kehrt sie als Menschenrechtsanwältin zum Leben und Arbeiten nach Phnom Penh zurück, als einzige ihrer Familie. Heute pendelt sie zwischen Kanada und Kambodscha, immer im Einsatz, um anderen Menschen zu helfen. Anne Watts von Save the Children, heute im Ruhestand, und Vichuta Ly, sind bis heute in Kontakt.
Vichuta Lys Geschichte ist Teil des von Save the Children initiierten internationalen Fotoprojekts "Ich lebe". Sie gehört zu insgesamt elf Menschen, die der Fotograf Dominic Nahr im 100. Jubiläumsjahr von Save the Children portraitierte. Alle Personen eint, dass sie als Kind Krieg erlebt haben und dass sie Hilfe durch die Kinderrechtsorganisation Save the Children erfahren haben. Es sind Schicksale von den Hungersnöten des Ersten Weltkriegs bis zum Aufwachsen im Flüchtlingscamp der Rohingya in Bangladesch. Zusammen ergeben sie ein eindringliches Plädoyer für die Menschlichkeit und ermutigen uns, auch künftig Kinder in Kriegen zu schützen und ihre Rechte zu verteidigen.
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