“Ich möchte mich nicht an diese Reise erinnern. Nie wieder.”
“Es herrscht Krieg in Syrien, aber wenigstens gab es etwas zu essen. Ich hätte nie gedacht, dass es mir hier in Europa noch schlechter gehen würde. Das ist nicht das Europa, das ich erwartet habe. Das ist menschenunwürdig.“
Vor mir steht ein syrischer Flüchtling, Vater von drei Kindern. Wir befinden uns in einer informellen Flüchtlingssiedlung auf einem Hügel auf der Insel Lesbos.

Es ist ein surrealer Ort. Dieser Platz war mal ein Verkehrsübungsplatz für Kinder. Mit asphaltierten Straßen und kleinen Verkehrszeichen. Nun ist es ein temporäres Zuhause für tausende Kriegsflüchtlinge und Migranten, die in bunten Zelten in der prallen Sonne hausen. Es ist überfüllt, laut und der Geruch von Schweiß und anderen Körperausdünstungen liegt in der Luft.
“Wir sind alle Immigranten”
Aus den Augen des Familienvaters spricht Unglauben. Hoffnungslosigkeit. Wir sprechen über Syrien. Darüber, was er verloren hat. Was nun passieren wird. “Jeder ist ein Migrant oder ein Flüchtling, wir sind alle Nachfahren von Flüchtlingen“, sagt er. Ich nicke. Mein Großvater war auch ein Flüchtling. 24 Stunden später werde ich mich an seine Worte erinnern, als ich an ein paar Graffitis im Hafen von Mytilini entlang fahre. In schwarzen Buchstaben steht dort geschrieben: „Wir sind alle Immigranten.“
Enttäuschte Hoffnungen
In dem provisorischen Camp in Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos liegt Ärger und Enttäuschung in der Luft. Vor zwei Tagen, als die Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan die Insel erreichten, waren sie noch voller Hoffnung. Sie fühlten eine neu gewonnen Freiheit, Erleichterung, hatten das Gefühl am Leben zu sein und eine zweite Chance zu bekommen.
Um die griechischen Inseln zu erreichen, müssen die Flüchtlinge das Meer zwischen der Türkei und der Insel Lesbos überqueren. Die Reise dauert ein paar Stunden und die Flüchtlinge steuern das Motor-Schlauchboot selbst. Die Boote sind überfüllt, voll mit Männern, Frauen und Kindern, die bereit sind alles zu riskieren, um nach Europa zu kommen.
„Mein Mann hat Fotos von unserer Reise gemacht, doch ich habe sie alle gelöscht. Ich möchte mich nicht an diese Reise erinnern. Nie wieder“, erzähl mir Noor*, Mutter von drei Kindern. Sie sagt, dass sie nach Deutschland oder Dänemark wollen. Sie haben gehört, dass in Dänemark eine sehr konservative Regierung an der Macht ist, deshalb ist Deutschland wahrscheinlicher.
Mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge sind Kinder
Ein von 122 Menschen weltweit sucht Asyl. Es sind Flüchtlinge oder Vertriebene im eigenen Land. Mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge sind Kinder. Eines von ihnen ist Sami*.
Er ist 15 Jahre alt und kommt aus Syrien. Sami ist hier zusammen mit einem Freund. Seine Familie ist in Syrien geblieben. „Ich habe gestern meine Mutter angerufen. Sie war sehr froh, von mir zu hören und zu wissen, dass ich in Sicherheit bin. Sie hat vor Freude geweint. Sie hätte ansonsten nie erfahren, ob ich die Überfahrt mit dem Boot sicher überstanden habe oder ertrunken bin. Wie hätte sie es erfahren sollen? Wer hätte es ihr erzählt?
Ein langer Weg
Inzwischen dämmert den neu angekommenen Flüchtlingen, was tausenden vor ihnen in den letzten Wochen begriffen haben und was noch viele nach ihnen erfahren werden: Dass der Weg, den sie noch vor sich haben, nicht so leicht ist, wie erwartet. Vielleicht haben sie darüber auch gar nicht nachgedacht – in Damaskus, Kabul oder Bagdad. Das Wichtigste war zu überleben und lebend da raus zu kommen.
Der Weg, der vor ihnen liegt, ist lang und erfordert Geduld und Ausdauer. Die 70 Kilometer in die Stadt, wo die Bearbeitung ihrer Papiere beginnt, müssen viele Migranten zu Fuß zurücklegen. Doch das ist nur ein erster kleiner Schritt. Die meisten Flüchtlinge wollen Griechenland wieder verlassen und weiter nach Nordeuropa. Einige werden dabei mehr Glück haben als andere. Doch der Rechtsweg braucht Zeit.
„Mein Sohn hat Bauchschmerzen“, erzählt eine afghanische Frau und bittet uns, ihn uns anzusehen. Doch ich bin kein Arzt. Ich bin Fotograf und mit einem Save the Children-Team hier, dass die Bedürfnisse der Flüchtlinge analysiert, um den Nothilfe-Einsatz in Griechenland zu starten.
Fast 100.000 Flüchtlinge allein in Griechenland
Wenn es überhaupt einen guten Zeitpunkt gibt, um fast 100.000 Flüchtlinge aufzunehmen, dann ist dieser nicht jetzt – weder für die Griechen noch für die Flüchtlinge. Griechenland kämpft mit einer schweren Wirtschaftskrise. Die Toleranz der lokalen Gemeinden ist begrenzt, wenn die eigenen Ressourcen knapp sind. Doch die meisten sind hilfsbereit. Die Griechen laden die Flüchtlinge zu sich nach Hause ein, kochen Mahlzeiten, verteilen Wasser und bieten Mitfahrgelegenheiten an.
Neun von zehn Flüchtlingen, denen die Ortsansässigen helfen, kommen aus Kriegsgebieten. Der Großteil stammt aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Die verbleibenden 10% kommen aus dem Iran, Palästina, Pakistan, Somalia, Eritrea und Bangladesch.
Morgen werden 20 Schlauchboote mit je 40 Kriegsflüchlingen an der Küste von Lesbos erwartet. Sie werden vor Freude weinen, singen und tanzen. Jemand wird ihnen dann erzählen, wo sie hingehen müssen, um sich zu registrieren, und dass es nur begrenzt Hilfe gibt. Sie werden sich auf den Weg machen und erschöpft Mytilini erreichen. Übermorgen werden wieder 20 Boote ankommen. Und am Tag danach wieder…
* Namen zum Schutz geändert.
Über den Autor: Hedinn Halldorsson ist Emergency Communications Manager bei Save the Children. Gemeinsam mit einem Assessment-Team besuchte er die griechischen Inseln Kos, Chios und Lesbos, um den Bedarf an humanitärer Hilfe für Flüchtlinge zu untersuchen.