„Ihr ermutigt zur Flucht“ und 4 weitere Gerüchte über unser Rettungsschiff
Die europäische Flüchtlingskrise ist eine der größten moralische Prüfungen für unsere Generation. Gleichzeitig ist sie ein Beispiel für kompletten politischen Stillstand.

Unser Rettungsschiff „Vos Hestia“ sucht das Mittelmeer nach in Seenot geratenen Flüchtlingsbooten ab – mit dem Ziel Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Dabei werden wir jeden Tag mit denselben fünf Vorwürfen konfrontiert. Wir möchten nun die Möglichkeit nutzen und auf einige dieser Vorwürfe antworten. Denn auch wenn wir nicht die Formel für den Weltfrieden kennen, wir sind davon überzeugt, dass wir mit dem, was wir tun, Leben retten.
1. „Hört auf, Flüchtlinge aufzulesen und sie nach Europa zu befördern.“
Wir sind kein Fährunternehmen. Wir kommunizieren nicht mit den Schleppern. Wir arbeiten unter der Leitung der italienischen Küstenwache und reagieren auf Notrufe nur dann, wenn wir dazu aufgefordert werden. Unser einziges Ziel ist es, das Leben von Menschen – und vor allem von Kindern – zu retten, die vor Gewalt, Verfolgung und extremer Armut fliehen.
Wir bewahren Menschen vor dem Ertrinken, und wenn wir mit unserer Arbeit aufhören würden, würde das lediglich zu mehr Toten führen. Das wurde 2014 bewiesen, als die EU die Gelder für Rettungsmissionen kürzte. Die Schlepper benutzten die gleichen gefährlichen Routen und in der Folge kam es 2015 zu mehreren schrecklichen Schiffsunglücken. Bei einem einzigen solchen Unglück starben damals fast 800 Menschen.
2. „Ihr ermutigt die Menschen zur Flucht.“
Wenn die Arbeit der Rettungsschiffe eingestellt wird, steigt die Zahl der Toten, aber es werden sich weiterhin Menschen auf den Weg nach Europa machen.
Such- und Rettungsmissionen führen nicht dazu, dass mehr Menschen die Überfahrt über das Meer wagen. Es bedeutet lediglich, dass mehr Menschen diese Überfahrt überleben.
Diese Studie der Oxford University belegt, dass die Zahl der Überquerungsversuche mit und ohne Rettungsmissionen ungefähr gleich hoch blieb. Doch die Zahl der Todesfälle war genau dann am höchsten, als die Zahl der Rettungsmissionen besonders niedrig war.
3. „Hört auf damit, Terroristen nach Europa zu bringen“
Die italienischen Behörden überprüfen und registrieren jeden, den wir retten. Alle sicherheitsbezogenen Aspekte sind Aufgabe der Behörden. Nach einer Rettungsaktion verfassen wir einen ausführlichen Bericht, aus dem die genaue Anzahl der Geretteten hervorgeht. Wenn unser Schiff das italienische Festland erreicht, werden diese Angaben von der italienischen Küstenwache genau überprüft.

4. „Es handelt sich bei den Flüchtlingen vor allem um erwachsene Männer“
Immer mehr Kinder nehmen den gefährlichen Weg über das Mittelmeer. Die Zahl stieg im Jahr 2016 um 76%. Die Zahl der unbegleiteten Kinder verdoppelte sich 2016 im Vergleich zum Vorjahr. Kein Kind sollte auf der Suche nach einer besseren Zukunft ertrinken. Wir arbeiten in den Ländern, aus denen die Kinder fliehen, und erklären ihnen die Gefahren dieser Fluchtroute. Insgesamt sind 94% der Kinder, die über die Mittelmeer-Route nach Italien kommen, alleine unterwegs. Sie brauchen dringend Schutz, denn sie sind besonders gefährdet durch Menschenhandel, Missbrauch und Ausbeutung.
5. „Schickt sie zurück nach Libyen“
Libyen kann nicht als sicherer Ort angesehen werden. Wenn Flüchtlinge nach Libyen zurückgeschickt werden, sind sie der Gefahr ausgesetzt, inhaftiert zu werden. Die Zustände in den Gefängnissen werden allgemein als unmenschlich angesehen. Es gibt Berichte, in denen Menschen davon erzählen, wie sie geschlagen, ausgepeitscht und an Bäumen aufgehängt wurden.
Wir haben unzählige Berichte von Frauen und Kindern gehört, die körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Familien werden gewaltsam in die Länder zurückgeschickt, aus denen sie vor Verfolgung, Krieg, Vergewaltigung, Folter und Ausbeutung flohen. Wenn sie das Mittelmeer erreichen, haben viele Kinder bereits unvorstellbare Grausamkeiten erlebt. Viele sind verletzt oder traumatisiert und brauchen dringend Unterstützung. Diese Unterstützung können sie in Libyen nicht bekommen.
Was also tun?
Manche Dinge, die wir an Bord unseres Rettungsschiffs hören und sehen sind unglaublich grausam. Wir versorgen Menschen, deren Haut vom Treibstoff der Boote verätzt wurde und sich abschält. Wir befürchten, dass viele Frauen in Libyen Opfer von Gruppenvergewaltigungen wurden. Wir helfen dabei, Pflegefamilien für verwaiste Babys zu finden, deren Mütter, bei dem Versuch dem sogenannten IS zu entfliehen, im Mittelmeer ertranken. Wir bergen leblose Körper, die bei Sonnenaufgang im Mittelmeer treiben – namenlose, hilflose Menschen.
Doch manchmal sind es Worte, die am meisten schmerzen. Das Team der Vos Hestia hatte gehofft, dass Ausdrücke wie „Horden“ oder „Kakerlaken“ nicht mehr in Bezug auf Menschen verwendet werden. Im Nationalsozialismus haben die Nazis Juden als „Kakerlaken“ bezeichnet. 1994 sprach in Ruanda der Hutu-Radiosender von den Tutsis ebenfalls als „Kakerlaken“. In beiden Fällen war es ein Aufruf zum Völkermord.
Der einzige Weg, das Sterben auf dem Mittelmeer zu beenden, ist die Schaffung sicherer und legaler Fluchtrouten. Das Versagen der EU hat dazu geführt, dass wir gemeinsam mit anderen humanitären Organisationen einspringen mussten, um weiteres Sterben zu verhindern. Die EU-Staaten müssen Italien mit Such- und Rettungsmissionen unterstützen. Das Retten von Leben sollte oberste Priorität haben.
Das Mittelmeer darf kein anonymes Massengrab für Kinder bleiben. Das ist nicht das, wofür unsere Generation in Erinnerung behalten werden sollte.
Über die Autorin: Gemma Parkin leitet das Medienteams von Save the Children UK. 2016 war sie Teil der Besatzung unseres Rettungsschiffs „Vos Hestia“ und erlebte die Rettungseinsätze hautnah mit.