Kinderarmut: „Machtlosigkeit. Scham. Isolation.“
Am 28. März veranstaltete Save the Children eine Konferenz, um mit Vertreter*innen aus Politik und Zivilgesellschaft über Auswege aus der Kinderarmut in Europa zu diskutieren. Sagithjan Surendra, Gründer und Vorstandsvorsitzender des Aelius Förderwerks, setzt sich für mehr Chancengleichheit in Deutschland ein und war als Kind selbst von Armut betroffen. Zu Gast bei der Veranstaltung berichtete er eindrücklich von seinen eigenen Erfahrungen und erklärte, warum Kinderarmut dringend bekämpft werden muss.
Ich bin selbst in Deutschland in Armut groß geworden - wie leider auch viele andere Kinder in meinem Umfeld. Was uns geeint hat waren nicht unsere Umstände, nicht unsere Herkunft, nicht unsere Schicksalsschläge - was uns geeint hat, war die Erfahrung im Defizit aufzuwachsen und der Traum, dass wir die Generation sind, die es einmal besser haben wird.
Mein Traum war es, dass ich Abitur mache und einmal so gut verdiene, dass wir unseren Wocheneinkauf bei Edeka machen. Mit diesem Traum, es einmal besser zu haben, sind wir alle unseren Weg gegangen. Über die Jahre, habe ich viele Freunde und Bekannte auf meinem Weg verloren, die anderswo auf diesem Weg abgebogen sind.
So stand ich am Ende meines Wegs mit dem Abitur und der Entscheidung, studieren zu wollen, allein da. Ich war von einer Isolation, in die andere gerutscht. Als Armutsbetroffener und erster Akademiker der Familie in einem Hörsaal voller Akademikerkinder zu sitzen, hat an meiner Scham auch nicht viel verändert. Und Machtlosigkeit? Das Gefühl machte mir zu schaffen, weil ich nicht verstehen konnte, wie in einem so reichen Land wie Deutschland es so viele junge Menschen gibt, die nicht Teil der Gesellschaft sein können.
Aus purer Frustration und dem Willen, etwas verändern zu wollen, habe ich mit 18 Jahren das Aelius Förderwerk gegründet, um junge Menschen dabei zu unterstützen, unabhängig finanzieller Umstände, ihren Weg zu finden.
Wir haben heute mit Aelius über 8000 junge Menschen unterstützt. Als ich gegründet habe, dachte ich, dass das ganze Engagement von Zivilgesellschaft und Politik Veränderung zeigen würde. Dass 8000 junge Menschen zu unterstützen, ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, aber ein Schritt in die richtige Richtung und ein Teil einer größeren Veränderung, wenn alle mitziehen. Dass ich heute hier stehen würde, ebenso schockiert wie ernüchtert, und wir über einen Bericht sprechen, der klar aufzeigt, dass Armut in Deutschland nur schlimmer geworden ist, das hätte ich nicht gedacht.
Dass heute mehr als jedes fünfte Kind von Armut gefährdet ist, zeigt: Wir stecken in einem Teufelskreis. Die Kinder, die wir heute bei Aelius fördern, berichten mir von Gefühlen, die ich nur allzu gut kenne: Machtlosigkeit, Scham, Isolation. Ich merke, dass Armut für viele gesichtslos ist. Der direkte Kontakt zu Armutsbetroffenen steht nicht im Blickfeld der Aufmerksamkeit von Politikern, Medien und Bürgern. Und oft ist Armut mit sozialer Ausgrenzung und dem Rückzug in ausgelagerte Quartiere verbunden, mit denen sich die Mehrheitsgesellschaft nicht konfrontiert. Das ist ein fundamentales Problem in der Armutsbekämpfung.
Wenn Freunde ins Kino gehen möchten, habe ich direkt abgesagt, weil ich weiß, was ich zu Hause vermeiden will. Von der Hälfte meiner Klassenfahrten wissen meine Eltern bis heute nichts, weil ich Geschichten erfunden habe, um der Schule abzusagen. Die Erfahrung, ausgeschlossen zu sein, zieht sich dann weiter durch die ganze Jugend und wirken sich auf alle Bereiche des Lebens aus.
Das ist Armut in Deutschland. Pandemie, Energiekrise und Inflation haben und werden diese Armut nur verschlimmern. Und vor allem in der Pandemie hat eine ganze Generation an Kindern eine Erfahrung gemacht: dass ihre Interessen zu wenig geachtet wurden und sie die größten Opfer bringen mussten. Das trägt nicht dazu bei, sie für unsere Demokratie zu begeistern. Und dieser Verdruss ist spürbar.
Die jetzige Regierung hat ihren Koalitionsvertrag betitelt mit “Mehr Fortschritt wagen”. Und ich hoffe, dass es nicht nur Fortschritt für ihresgleichen meint, sondern gerade für die Menschen, die keine Plattform für ihre Stimmen haben. Denn so viel steht auf dem Spiel.
Gerade in Deutschland ist Kinderarmut ein hausgemachtes Problem. Wir sind ein ungeheuer reiches Land, mit über 3 Billionen Euro Inlandsprodukt bräuchten wir Armut nicht dulden, wir könnten sie beseitigen, aber es passiert nichts. Wir brauchen Veränderung, und zwar dringender denn je. Die angekündigte Kindergrundsicherung kann ein wirksames Instrument sein, um Kinderarmut zu bekämpfen, wenn wir sie wirklich an den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen orientieren. Bei all diesen Maßnahmen geht es nicht nur darum, dass wir Eltern mehr Geld geben sollten.
Vor allem heute, in einer Zeit multipler Krisen und Herausforderungen, deren Konsequenzen meine und Generationen nach mir tragen müssen, brauchen wir mehr denn je junge Menschen, die die Erfahrung gemacht haben, dass Wünsche in Erfüllung gehen können, dass man Ziele erreichen kann, dass man Veränderung bewirken kann. Und da sehe ich uns in der Verantwortung, dass wir alles tun, damit Kinder nicht nur Probleme sehen, sondern auch Lösungen gestalten.