Kinderrechte entlang der Lieferkette schützen
Weltweit werden Kinderrechte entlang von Lieferketten verletzt oder in Gefahr gebracht. Save the Children arbeitet daran, diese Verletzungen und Risiken für Kinder langfristig zu beenden. Gemeinsam mit Unternehmen entwickeln wir Lösungen, um Kinderrechte entlang der Lieferketten zu schützen und positiv zu beeinflussen. Doch wie funktioniert das und welche Schritte müssen beachtet werden? Unsere Expertin für nachhaltige Lieferketten, Anne Reiner, beantwortet die wichtigsten Fragen.
Was bedeuten eigentlich Lieferketten und was hat die Arbeit von Save the Children damit zu tun?
Anne Reiner: Jedes Unternehmen bringt sogenannte Lieferketten mit sich. Lieferketten sind eine Aneinanderreihung verschiedener Produktionsstufen, die zwischen der Kakaobohne und der Schokolade, wie ich sie hier im Supermarkt kaufen kann, existieren.
Save the Children arbeitet als internationale Kinderrechtsorganisation in den drei Bereichen Bildung, Gesundheit und Kinderschutz. Im Sinne der Entwicklungszusammenarbeit setzen wir umfassende gemeindebasierte Projekte auf und arbeiten mit Regierungen, Gemeinschaften und einzelnen Menschen zusammen. Da Kinderrechte entlang der Lieferketten häufig verletzt werden oder in Gefahr sind, nutzen wir den Ansatz der unternehmerischen Sorgfaltspflicht um Kinderrechtsrisiken zu minimieren, bei Verletzungen tätig zu werden und die Kinder zu schützen.
Wo kommt es zu Kinderrechtsverletzungen in Lieferketten?
Anne Reiner: Entlang der Produktionsstufen von beispielsweise Schokolade sind Menschen beteiligt, die bestimmte Arbeitsschritte umsetzen, damit ich am Ende eine Schokolade habe. In vielen Ländern, wo Lieferkettenstufen verlaufen, also wo beispielsweise der Kakao angebaut und gepflückt wird, wo Baumwolle abgebaut wird oder Handys in Fabriken zusammengeschraubt werden, kommt es zu gravierenden Menschenrechts- und Kinderrechtsrisiken und -verletzungen.
Und wie finden wir derartige Kinderrechtsrisiken und -verletzungen heraus?
Anne Reiner: Save the Children hat ein Bündnis mit seiner gemeinnützigen Tochterorganisation „The Center for Child Rights“. Die Tochterorganisation hat einen speziellen Ansatz und Expertise darin, mit Unternehmen zu sprechen. Gemeinsam mit den Unternehmen analysiert sie Kinderrechtsrisiken entlang der Lieferkettenstufen, um diese zu vermeiden und wiedergutzumachen, wenn Kinderrechtsverletzungen stattgefunden haben.
Wie wird der Kontakt mit Unternehmen hergestellt?
Anne Reiner: Prinzipiell gibt es zwei Wege: Entweder kommt das Unternehmen auf uns zu, weil sie sich der Entwicklungen bewusst sind und etwas machen wollen. Oder ihnen ist ein Skandal um die Ohren geflogen und die Unternehmen “müssen” etwas tun.
Zusätzlich versuchen wir über Öffentlichkeitsarbeit, Konferenzen und Events mit Unternehmen in Kontakt zu treten und unser Angebot vorzustellen. Durch unsere Initiative und auch durch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz nimmt das mehr Fahrt auf, weil die Unternehmen dadurch verpflichtet sind, mehr zu tun.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit den Unternehmen konkret aus?
Anne Reiner: In der Regel arbeiten wir mit den großen internationalen Unternehmen zusammen, also mit dem Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland oder auch mit E-Commerce Giganten in den USA. Wir analysieren, welche Unternehmen, Agenturen und Firmen an den Lieferkettenstufen beteiligt sind und welche Produktionsschritte die Auftragnehmer ausführen. Wir arbeiten uns entlang der Lieferketten herunter und schauen auf den jeweils verschiedenen Stufen, was deren spezieller Einfluss auf die Kinderrechtsrisiken ist und was sie tun können, um diese zu vermeiden.
Das heißt, wir sprechen mit dem Fabrikmanagement oder der Farmenverwaltung, aber auch mit den Arbeiter*innen. Wir sprechen mit Kindern, um ihren Input zu erhalten, wir sprechen auch mit Stakeholdern aus den Gemeinschaften, weil es immer darum geht, die Grundursachen von Rechtsverletzungen genauer zu verstehen.
Wo auf der Welt passieren die meisten Kinderrechtsverletzungen entlang von Lieferketten?
Anne Reiner: Prinzipiell gibt es Kinderrechtsrisiken in allen Lieferketten und damit in allen Ländern der Welt. Natürlich gibt es Gegenden, die einen Schwerpunkt zu Lieferketten haben. Beispielsweise wird in Westafrika viel Baumwolle, Kakao und Kaffee abgebaut und viele asiatische Länder haben sich auf den produzierenden Sektor konzentriert.
Wir bei Save the Children Deutschland arbeiten in den Ländern, wo die Lieferketten der deutschen Unternehmen verlaufen. Das sind im Prinzip die asiatischen Länder Myanmar, Bangladesch, China, Indonesien, Philippinen und Malaysia, in denen viel produziert wird. In Afrika sind es der Kongo für den Abbau von Kobalt und die landwirtschaftlich geprägten Volkswirtschaften wie Ghana, die Elfenbeinküste und Ägypten. Das Center ist ansonsten auch in Lateinamerika aktiv, etwa in Mexiko und Brasilien.
Wie identifizieren wir Kinderrechtsrisiken entlang einer Lieferkette?
Anne Reiner: Zuerst geht es darum, Transparenz in Lieferketten zu schaffen. Das machen wir über Kinderrechtsanalysen in und entlang der Lieferketten von Unternehmen.
Diese Analysen umfassen zwei Teile: Der erste Teil besteht darin, sich den Kontext der Lieferkette anzuschauen und zu verstehen – das beinhaltet auch, die Umstände im jeweiligen Land zu verstehen, in dem Produktionsschritte einer Lieferkette stattfinden. Der zweite Teil umfasst den Besuch unserer Kolleg*innen bei den Fabriken. Sie schauen sich beispielsweise an, welche Menschen am Fließband stehen oder auf der Farm arbeiten, welche Tätigkeiten sie ausführen und ob es dort Kinderrechtsrisiken gibt.
Dabei unterscheiden wir zwischen dem direkten Einfluss und indirekten Einfluss auf Kinderrechte: Unter dem direkten Einfluss verstehen wir im Großen und Ganzen Kinderarbeit. Von Kinderarbeit sprechen wir, wenn Kinder unter dem jeweils gültigen erwerbsfähigen Alters sind und arbeiten. In vielen Ländern ist das erwerbsfähige Alter 15 Jahre, also mit Ende der Schulpflicht.
Für jugendliche Arbeitskräfte, die das lokal gültige erwerbsfähige Alter erreicht haben und vom Gesetz her arbeiten dürfen, aber noch unter 18 und damit gesetzlich ein Kind sind, gilt ein besonderer Arbeitsschutz. Und wenn dieser Arbeitsschutz nicht eingehalten wird, dann zählt das rechtlich auch als Kinderarbeit. Hier geht es häufig um Regelungen wie das Verbot von Nachtschichten oder 12-Stunden-Schichten am Stück – das hängt vom Land und Sektor ab.
Der indirekte Einfluss, den wir mitberücksichtigen, kommt beispielsweise über die Arbeitsbedingungen der Eltern zustande. Wenn Eltern beispielsweise beide jeweils so viel arbeiten müssen, dass sie sich nicht um das Kind kümmern können. Denn das hat Einfluss auf die Rechte des Kindes. Das Kind ist in diesem Fall vernachlässigt und erfährt nicht die Unterstützung, die es braucht.
Was passiert, wenn wir Kinderrechtsrisiken in einer Lieferkettenstufe identifiziert haben?
Anne Reiner: Wir legen die verschiedenen Stimmen und Bereiche, die wir gesammelt und analysiert haben nebeneinander und definieren die größten Kinderrechtsrisiken, um dann eine klare Priorisierung an Unternehmen aussprechen zu können, wie es nun handeln sollte. Die Priorisierung erfolgt dabei anhand der Schwere und Ausmaß der Rechtsverletzung sowie den Einflussmöglichkeiten des Unternehmens. Beispielsweise macht es einen Unterschied, ob ein 15-jähriges oder ein achtjähriges Kind zu viel arbeitet.
Bis vor wenigen Jahren war der weitverbreitete Standard in der Wirtschaft zu sagen, „Wir schließen in den Verträgen mit unseren Zulieferern Kinderarbeit aus, wir tolerieren also keine Kinderarbeit“. Die Zulieferer müssen dann den Vertrag unterschreiben, damit die Unternehmen ihnen ihre Ware abkaufen. Das ist grundsätzlich richtig, nur führt das in der Realität nicht dazu, dass Kinderarbeit nicht stattfindet. Sondern es führt dazu, dass Kinderarbeit versteckt passiert.
Eine weitere Folge ist, dass Kinder von der Farm geworfen werden, aus der Fabrik geschmissen und vor die Tür gesetzt werden, wenn Kinderarbeit entdeckt wird. Aber dadurch ist dem Kind ja nicht geholfen, denn es geht deswegen nicht zur Schule zurück, sondern muss irgendwo anders Arbeit suchen, wo in der Regel noch schlechtere Arbeitsbedingungen herrschen. Hier wollen wir mit dem Unternehmen ihre unternehmerische Geschäftspraktik, also ihre Policy und Richtlinien verbessern.
Wie sieht so eine konkrete Hilfe für betroffene Kinder aus?
Anne Reiner: Das klassische Ziel ist immer, das Kind in ein Bildungsangebot zurückzuführen. Die Kolleg*innen sprechen mit dem Kind, mit der Familie und mit der Farm oder der Fabrik, wo die Kinderrechtsverletzung passiert ist.
Damit das Kind (wieder) einem Bildungsangebot nachgehen kann, wird dem Kind oder der Familie ein monatlicher Geldbetrag bezahlt. Dieser Geldbetrag soll den Einkommensverlust ausgleichen, der entsteht, wenn das Kind nicht mehr arbeitet. Denn die Familie ist meist auf das Einkommen angewiesen, dass das Kind erarbeitet hat.
Dann begleiten wir das Kind, bis es das jeweilige erwerbsfähige Alter erreicht hat. Damit stellen wir sicher, dass das Kind wie vereinbart dem Bildungsangebot nachgeht. Und falls das aus unterschiedlichen Gründen nicht funktioniert, können wir nachsteuern. Je nach Situation kann es dann auch noch zusätzlich eine Unterstützung durch Gesundheitsdienstleistungen umfassen.
Wer kommt für die Kosten der Arbeit für den Kinderschutz auf?
Anne Reiner: Das Unternehmen oder die Lieferkettenakteure bezahlen für eine Wiedergutmachung. Entweder bezahlt das internationale Unternehmen, weil in dessen Lieferkette diese Rechtsverletzung stattgefunden hat, oder der Zulieferer muss dafür bezahlen, denn die internationalen Unternehmen wälzen die Kosten häufig auf sie ab.
Hinzu kommen die Kosten für die Fallarbeit, um das Kind langfristig begleiten zu können. Die Fallarbeit leistet nicht das Unternehmen selbst, denn Kinder gehören zu den vulnerabelsten Gruppen und deswegen benötigt es für diese Arbeit eine bestimmte Expertise. Eine Kinderrechtorganisation wie Save the Children übernimmt diese Arbeit. Und Save the Children wird für diese Arbeit vom Unternehmen bezahlt. Idealerweise ist das eine Staatsaufgabe – das geschieht in vielen Ländern aber nicht. Hier gibt es leider eine Lücke im System, dir wir füllen.
Welche Erfolge hatten wir bisher beim Schutz von Kinderrechten in Lieferketten?
Anne Reiner: Wir setzen die Fallarbeit sehr erfolgreich um. Wir sind stolz darauf, dass wir bei einigen Unternehmenskooperationen unseren Ansatz so im Unternehmen verankern konnten, dass diese die Verantwortung für den Kinderschutz langfristig selbst übernehmen.
Wie können Unternehmen den Schutz von Kindern in ihren Richtlinien langfristig verankern?
Anne Reiner: Wir haben mehrere Ansätze, die so konzipiert sind, dass Lieferkettenakteure den Schutz von Kindern mittelfristig selbst umsetzen können. Ein Ansatz umfasst, fabrikbasierte Kinderbetreuungsmöglichkeiten zu schaffen und einen gesicherten Spiel- und Schutzraum (Child Friendly Spaces) aufzubauen, an dem Kinder Kind sein können und geschützt sind, spielen und lernen können. Hier sprechen wir von Kinderbetreuungsmöglichkeiten direkt in der betroffenen Fabrik. Dort sind dann Sozialarbeiter*innen angestellt, die sich um die Kinder kümmern, dessen Eltern in der Fabrik arbeiten. Und das funktioniert relativ gut im produzierenden Sektor.
Wir haben diesen Ansatz beispielsweise das erste Mal in der Rosenlieferkette in der Türkei angewendet und dort hat es bereits im zweiten Jahr infolge die Rosenplantage selbst übernommen. Das ist etwas, was wir als Erfolgsgeschichte verzeichnen: Wenn das Unternehmen die Verantwortung übernimmt.
Ein weiterer Ansatz ist unser „Youth Development Programme“. Ein großer Treiber von Kinderarbeit weltweit liegt darin begründet, dass Jugendliche im erwerbsfähigen Alter im formellen Sektor keine Beschäftigung finden, weil diese etwa niemanden unter 18 Jahren einstellen, um auf der sicheren Seite zu sein. Dadurch suchen sich Jugendliche im informellen Sektor eine Beschäftigungsmöglichkeit, meist zu schwierigeren und gefährlicheren Bedingungen.
Nochmal zusammengefasst, was sind unsere primären Ziele in unserer Arbeit entlang der Lieferketten?
Anne Reiner: Der große und eigentliche Knackpunkt ist, dass internationale Unternehmen zu wenig in ihrer Lieferkette bezahlen. Wenn das abnehmende Unternehmen zu wenig bezahlt, dann bedeutet das auf den vorgelagerten Lieferketten, dass keine existenzsichernden Löhne bezahlt werden können.
Wenn wir uns eine Familie vorstellen, in der beide Eltern Vollzeit arbeiten und sie es sich trotzdem nicht leisten können, ihr Kind zur Schule zu schicken, dann können wir dem Kind zwar immer noch helfen und die Kinderarbeit wiedergutmachen, aber das eigentliche Problem ist ja, dass die Eltern nicht ausreichend verdienen. Weltweit wollen Eltern, dass ihre Kinder zur Schule gehen und lernen. Keine Eltern möchten freiwillig, dass ihr achtjähriges Kind arbeiten gehen muss.