Projektbesuch in Jordanien
Seit mehr als fünf Jahren herrscht Krieg in Syrien. Zahlreiche Menschen haben ihre Heimat verlassen und Schutz in den Nachbarländern gesucht, u.a. in Jordanien. Save the Children setzt hier verschiedene Projekte um, um Flüchtlingsfamilien zu unterstützen. Gemeinsam mit unserer Partnerorganisation Schüler Helfen Leben (SHL) habe ich im Mai eines dieser Projekte besucht und beeindruckende Menschen kennengelernt.

Kein Recht auf Schule
Wenn Familien nach der beschwerlichen Flucht in Jordanien ankommen, haben die Kinder oft keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Denn in Jordanien hat ein Kind kein Recht auf einen Schulplatz, wenn es mehr als drei Jahre nicht mehr zur Schule gegangen ist – für zahlreiche Kinder und Jugendliche, die aus Syrien geflohen sind, ist das jedoch traurige Realität.
Hier setzt das von Schüler Helfen Leben (SHL) finanzierte und von Save the Children umgesetzte Projekt an: Seit 2013 verbindet SHL und Save the Children eine enge Partnerschaft, in deren Fokus Projekte zur Unterstützung syrischer Kinder und Jugendlicher in Jordanien stehen. Denn wir können sie zwar weder die Vergangenheit vergessen lassen, noch ihnen eine leichtere Zukunft versprechen – doch wir können ihnen die Chancen geben, ihr Leben selbst zu gestalten.
Mustaqbali – Meine Zukunft
In Ramtha, direkt an der Grenze zu Syrien im Norden des Landes, betreibt Save the Children ein sogenanntes Mustaqbali-Zentrum für informelle Bildung. „Mustaqbali“ heißt übersetzt „Meine Zukunft“ – und der Name ist Programm. Kinder und Jugendliche können hier lesen, schreiben, Mathe, Englisch, Naturwissenschaften und den Umgang mit Computern lernen. Zwar können keine offiziellen Abschlüsse ausgestellt werden, doch eröffnen die Bildungsangebote den Schülern neue Möglichkeiten und helfen ihnen, Weichen für ihre Zukunft zu stellen.
Lernen für eine bessere Zukunft
Besonders beeindruckt hat mich die 17-jährige Rita* – mit ihrer Geschichte, aber auch mit ihrer Kraft und ihrem Willen zu lernen. Rita lernt nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Kinder. Denn obwohl Rita eigentlich selbst noch ein Kind ist, ist sie bereits zum zweiten Mal schwanger. Mit 14 wurde sie verheiratet, kurz darauf kam ihr erstes Kind zur Welt. Es war noch ein Baby als sie gemeinsam mit ihrem Mann über die syrische Grenze nach Ramtha floh. Auf der Flucht wurde Ritas Mann an seinen Händen verletzt und kann seither nicht mehr arbeiten. Rita nimmt am Unterricht teil, um ihrer Familie eine Zukunft bieten zu können.
Sie ist in der Basisklasse, denn sie kann weder lesen noch schreiben. Während man ihr zuhört, stellt sich einem unweigerlich die Frage, ob man selbst die Kraft hätte, neben den Sorgen um Freunde und Verwandte in der Heimat, existentieller Ungewissheit und gesundheitlichen Problemen auch noch lesen und schreiben zu lernen. Doch ihre Motivation ist ganz klar: sie will es können, denn sie will es an ihre Kinder weitergeben – denn die sollen eine leichtere Zukunft haben als sie.
Allen Hindernissen zum Trotz
Auch Ghandi* kommt regelmäßig zum Mustaqbali-Zentrum. Er erzählt, dass es für ihn nicht leicht ist. Er muss eine Stunde zu Fuß ins Zentrum laufen und nach dem Unterricht nachmittags arbeiten. Er ist erst 16 Jahre alt, aber in seiner Familie das älteste männliche Mitglied und nun Haupterwerbstätiger. Der Unterricht passt nur sehr knapp in seinen Tag und er arbeitet dafür oft bis spät in die Nacht. Aber er möchte lernen und hofft, dass es irgendwann für seinen Berufsweg von Vorteil sein wird.
Es ist nicht nur die Gesetzeslage
Obwohl es die Gesetzeslage vielen syrischen Kindern und Jugendlichen in Jordanien schwer bis unmöglich macht, den Weg zurück in die Schule zu finden, ist sie nicht die einzige Hürde.
Eine Gruppe Mütter und Großmütter, mit denen wir uns lange im Innenhof des Mustaqbali-Zentrums unterhalten, bestätigt, was auch die Schüler schon haben durchblicken lassen. Insbesondere Jungen müssen häufig arbeiten. Sie sind oft die einzigen überlebenden männlichen Familienmitglieder und müssen zum Unterhalt der Familie beitragen. Insbesondere da geflohene Erwachsene in Jordanien offiziell nicht arbeiten dürfen. Die Mütter und Großmütter erzählen von ihren Vätern, Brüdern und Söhnen, die im Krieg ihr Leben verloren. Jedes dieser Schicksale berührt uns und ist nur schwer wieder aus dem Kopf zu bekommen.
Heirat statt Schule
Junge syrische Mädchen hingegen werden seit Ausbruch des Konflikts immer öfter immer früher verheiratet. Familien sehen es oft als Schutzmechanismus: um die Tochter finanziell abzusichern, aber auch um ihr ein vermeintlich sichereres Umfeld zu bieten. Tatsächlich ist es so, dass die Kindheit ihrer Töchter jäh vorbei ist, sobald sie verheiratet sind. Anstatt lernen, spielen und beschützt aufwachsen zu dürfen, wird oft erwartet, dass sie selbst Kinder zur Welt bringen und sich um die Familie kümmern.
Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung!
Die Geschichten der Jungen und Mädchen, Mütter und Großmütter haben uns alle sehr bewegt. Es ist etwas anderes, ein solches Schicksal aus dem Mund der Betroffenen zu hören. Dabei in ihre Gesichter zu schauen, in denen das Ausmaß des Leids sichtbar wird. Es ist etwas ganz anderes als aus der Ferne aus den Medien von solchen Schicksalen zu erfahren.
Umso beeindruckender war die Kraft, mit der gerade Jugendliche, die diesen Konflikt von klein auf erfahren haben, lernen und ihre Chancen ergreifen wollen. Zu Recht sind sie stolz darauf, jeden Tag von Neuem wider aller Hindernisse am Unterricht teilzunehmen – und so ihr Recht auf Bildung für sich und kommende Generationen einzufordern. Ohne ihr Interesse und ihre Teilnahme könnten unsere Projekte nicht bestehen und erfolgreich sein.
* Namen zum Schutz geändert
Über die Autorin: Sally Wichmann arbeitet in der Abteilung Unternehmenspartnerschaften & Stiftungen bei Save the Children Deutschland. Im Mai besuchte sie zusammen mit Vertretern der Organisation Schüler Helfen Leben Projekte von Save the Children in Jordanien.