Ukraine: Jenseits des politischen Konflikts
Wenn ich an meine Kindheit denke, dann denke ich automatisch an aufgeschlagene Knie. Eine junge Mutter in der Ukraine hat meiner Kollegin vor Ort neulich von den aufgeschlagenen Knien ihrer Tochter erzählt. Allerdings kamen die nicht vom Spielen, sondern davon, dass sie immer wieder auf den Treppen hinfiel, wenn sie sich vor dem Bombenalarm in den Keller flüchten musste. 1,7 Millionen Kinder sind von dem Krieg in der Ukraine betroffen.

Das Leid der Zivilbevölkerung durch die kriegerischen Auseinandersetzungen hat sich durch die winterlichen Temperaturen von -25° in einigen Regionen nicht gerade verringert. Wer kein Dach mehr über dem Kopf hat, keine warmen Schuhe an den Füßen und wer dazu kaum noch Möglichkeiten hat, Hilfe von öffentlicher Hand zu erhalten, der hat es schwer, so einen harten Winter zu überleben.
Die Menschen sehen aus wie Schatten
Während sich die Krise immer weiter zuspitzt, sind mittlerweile ca. 600.000 in Nachbarländer geflohen, knapp 1 Million befindet sich innerhalb der Ukraine auf der Flucht in weniger umkämpfte Gebiete. Einige davon hat meine Kollegin von Save the Children Cat Carter getroffen. Eindringlich hat sie mir von der Verzweiflung der Mütter erzählt, die aufgrund ihres überstürzten Aufbruchs ins Ungewisse nicht einmal winterfeste Kleidung für ihre Kinder mitnehmen konnten. Cat hat mir ein Foto von Svetlana geschickt, die aus Donezk kommt. Vor drei Tagen ist sie kurz in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, um zu sehen, wie es ihren Eltern geht, die sie zurücklassen musste. Für die junge Mutter war die Begegnung mit den in Donezk verbliebenen Menschen ein Wirklichkeit gewordener Alptraum: „Sie sehen aus wie Schatten. Es ist lebensgefährlich, sich durch die Stadt zu bewegen. Wer jung und kräftig ist, kann in den Schlangen für die Hilfslieferungen ausharren, aber die Alten und Schwachen sind ihrem Schicksal mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert.“
Ein Ende des Konflikts ist nicht absehbar – und er ist so nah
Mitarbeiter von Save the Children bewegen sich seit Wochen immer wieder rein und raus aus den besonders umkämpften Gebieten um Donezk und Luhansk. Was sie berichten, ist erschütternd: Die Menschen sitzen regelrecht in der Falle, Kinder müssen oft tagelang in Kellern ausharren, weil der Bombenhagel einfach nicht aufhören will. Auch die medizinische Versorgung ist mehr als eingeschränkt, zumal einige Krankenhäuser eine ganze Reihe von ausgebombten Familien aufgenommen haben, damit diese nicht unter freiem Himmel campieren müssen. Save the Children hilft so gut wie möglich: mit warmer Kleidung und Decken, Medizin und natürlich Wasser und Lebensmitteln. Aber klar ist auch: das alles reicht nicht aus. Cat hat mir erzählt, wie wichtig es ist, dass vor allem die Kinder psychosoziale Hilfe bekommen. Außerdem müssen wir versuchen, dass sie weiterlernen können, denn nur noch die Hälfte aller Kinder in den kriegerischen Gebieten geht überhaupt noch zur Schule. Da niemand auch nur die leiseste Ahnung hat, wie lange dieser Konflikt noch andauern wird, sind die Menschen vollkommen auf Hilfe von außen angewiesen. Schon 10 US-Dollar reichen aus, um eine vierköpfige Familie eine Woche lang mit sauberem Wasser zu versorgen.
Vor einem Jahr war in der Ukraine alles ruhig, Menschen gingen so wie Sie und ich täglich Ihrer Arbeit nach, Kinder gingen zur Schule, es herrschte normaler Alltag. Erschreckend, wie schnell sich alles ändern kann.
Save the Children arbeitet seit mehr als 20 Jahren in Osteuropa und seit rund sieben Jahren mit Hilfe von lokalen Partnern auch in der Ukraine. Im letzten Jahr wurde im Zuge der aktuellen Krise ein Nothilfe-Einsatz gestartet. Ein Team von 30 Mitarbeitern arbeitet rund um die Uhr, um Flüchtlingsfamilien mit dem Nötigsten zu versorgen. Wir planen unsere Maßnahmen auszuweiten und sicherzustellen, dass Kinder Zugang zu Bildung und psychosozialer Betreuung bekommen, um die Erlebnisse zu verarbeiten. Lesen Sie mehr auf unserer
Über die Autorin: Kathrin Wieland ist die ehemalige Geschäftsführerin von Save the Children Deutschland. In Blog-Artikeln erzählte sie regelmäßig von ihrer Arbeit und der Arbeit ihrer Kollegen in Krisenregionen weltweit.