Ukraine: Kinder brauchen Ehrlichkeit, keine falschen Versprechungen
Helene Mutschler, Fundraising und Marketing Direktorin bei Save the Children Deutschland, war im Mai in Litauen und hat dort u.a. Schutz- und Spielräume für ukrainische Kinder besucht. Hier erzählt sie von ihren Eindrücken, der enormen Hilfsbereitschaft und bewegenden Begegnungen mit Menschen, die alles zurücklassen mussten.
Wir erreichen Vilnius an einem Sonntagabend. Ich war vor zwanzig Jahren schon mal hier, damals als Studentin auf Entdeckungstour durch das Baltikum. Ich erinnere mich an verwunschene Gassen, sanftes Licht und eine undefinierbare Aufbruchstimmung. Damals verbrachte ich ein Auslandsjahr im russischen St. Petersburg, der Ausflug ins Baltikum war wie eine halbe Heimreise, in einen Transit-Ort zwischen Ost- und Westeuropa. Wir fuhren damals mit dem Zug, mit den üblichen Schikanen an den Grenzübergängen. Heute ist der Weg von Osten aus versperrt, es ist Krieg in der Ukraine. Von Berlin aus sind es jedoch nur 90 Flugminuten. Nach der Landung geht es vorbei an einer mir unbekannten Skyline, gläserne Hochhausfassaden von Banken und Versicherungen mit frisch gepflanzten Kirschbäumen davor. Doch nicht die Farben des Frühlings dominieren das Straßenbild, sondern die blau-gelbe ukrainische Fahne. Sie ist überall, in groß und klein, an nahezu jedem Gebäude, mal offiziell, mal selbstgemacht.
Kollektiver Traumazustand
Seit dem russischen Angriff auf das Nachbarland befinde sich die litauische Bevölkerung in einer Art kollektivem Traumazustand, ordnet unsere litauische Kollegin, die Psychologin Silvestra Markuckienė, die Lage im Land am nächsten Morgen im Büro von Save the Children Litauen für uns ein. Der Angstlevel in der Bevölkerung sei laut Erhebungen zwischendurch sehr hoch gewesen, viele Menschen stünden unter Schock. Die geteilte Geschichte und die geografische Nähe machen die Schreckensszenarien des Krieges hier noch realer, Erinnerungen an die sowjetische Herrschaft werden wieder wach, aber auch an die Zeit des Protests und des Widerstands. Es ist diese Nähe und der Umstand, dass das Russische noch aus den Zeiten der Sozialistischen Sowjetrepubliken eine Sprache ist, die sowohl Litauer*innen als auch Ukrainer*innen verstehen und sprechen, die Litauen zu einem guten Zufluchtsort für Geflüchtete aus der Ukraine machen. Wohnungs-, Job- und Schulsuche werden so leichter, man kommt besser klar. Und es sei nicht weit weg von Zuhause, das hören wir auch, man könnte schnell wieder heim, wenn das wieder möglich ist.
Registrierungszentrum mit Schutz-und Spielräumen für ukrainische Kinder
Die litauischen Kolleginnen haben über Nacht in einem Registrierungszentrum für ukrainische Geflüchtete in Vilnius einen geräumigen Schutz- und Spielraum für Kinder eingerichtet, in dem sie betreut werden, während die Eltern Behördengänge machen und versuchen, das Leben in Litauen zu organisieren: Unterkunft, Arbeit, Schulplatz. Es gibt hier einen Extra-Raum für Stillende, volle Regale mit Windeln und Feuchttüchern, auch eine Reihe von gespendeten Kinderwagen steht bereit. Wie geht es den Kindern, wollen wir natürlich wissen. So, wie es ihren Eltern geht, sagt die Psychologin Silvestra. Die Eltern, meist sind es die Mütter, sind oft selbst nicht stabil. Viele haben Angst- und Panikattacken, manche können nicht aufhören zu weinen. Andere verdrängen eher, sind im Erledigungsmodus, das Verarbeiten des Erlebten beginne später. Andere wiederum sind verstummt oder sprechen ohne Emotionen, als wäre das alles nicht ihnen passiert, als seien sie nicht Teil dieser entsetzlichen Geschichte von Krieg und Flucht. Manche wissen sich zwar in Sicherheit, können diese aber nicht fühlen. All das macht natürlich auch was mit den Kindern. Einige haben Alpträume, sind über Gebühr unsicher, weinen viel, können sich schlecht mitteilen oder von den Müttern lösen.
Psychologische Beratung und Therapie als Bewältigungsstrategien
Und gleichzeitig – oder trotzdem – haben Kinder gute Chancen, solche Situationen zu bewältigen. Unsere Schutz- und Spielräume sind dafür ein wichtiger Ausgangspunkt. Hier bauen sie sich kleine Höhlen und Unterschlüpfe aus Kisten und Zelten, hier malen und basteln sie, hier können sie mit jemandem reden. Sie können anfangen, das zu verarbeiten, was ihnen der Krieg angetan hat.
'Gemeinschaftsgefühl' nennt es Silvestra, sie benutzt das deutsche Wort, auch wenn sie sonst Englisch mit uns spricht. Den Müttern hilft es zu sehen, dass ihnen geholfen wird, dass andere Menschen sich um sie und ihre Kinder kümmern. Die, die sich kümmern, sind unsere Kolleg*innen von Save the Children Litauen und ihren lokalen Partnerorganisationen und unendlich viele Ehrenamtliche. Wie die junge Psychologin Alina Syolukhina, die mit ihrer 12-jährigen Schwester und ihrer Mutter selbst aus der Ukraine geflüchtet ist. Den Job in unserem litauischen Team hat sie über eine Facebook-Anzeige gefunden. "Die Kinder sind wie Engel und Sonnenschein", sagt sie. Sie hilft ihnen u.a. mit Entspannungstechniken, mit Gruppen- und Einzelgesprächen oder mit Kunsttherapie.
Die Kunst hat sie auch für sich wiederentdeckt, die zuvor kahlen, grau-beigen Wände in den für die Ukrainehilfe angemieteten Büroräumen hat sie bunt bemalt, mit Blumen, Bienen und Bäumen. Das habe ihr selbst auch geholfen, erzählt sie lachend. Schließlich sind ihr Freund und auch ihr Vater in der Ukraine geblieben. Morgens geht der erste Blick immer aufs Handy, zu Telegram. Sind alle am Leben, sind alle gesund? Alina und auch die anderen Teammitglieder, die besonders gefordert sind durch ihre Arbeit mit den Geflüchteten, werden wiederum von Silvestra begleitet und unterstützt. Damit es den Helfenden auch gutgeht. Die Arbeitsbelastung ist hoch, die Schicksale, mit denen sie konfrontiert sind, oft schwer zu ertragen.
Tagesstätte für benachteiligte Kinder
Wir sind an zahlreichen weiteren litauischen Standorten für die Geflüchteten aus der Ukraine tätig, und so fahren wir danach nach Kaunas, anderthalb Stunden von Vilnius entfernt, die zweitgrößte Stadt und dieses Jahr europäische Kulturhauptstadt. Es wird viel gebaut und saniert, auch hier dominieren die blau-gelben Farben. Wir fahren in ein Wohngebiet und besuchen dort eine Tagesstätte, wo Kinder nach der Schule ein Mittagessen bekommen, bei den Hausaufgaben betreut werden und spielen können. Errichtet von Save the Children für litauische Kinder aus der Nachbarschaft hat diese Tagesstätte jetzt mehr als doppelt so viele Kinder zu betreuen wie zuvor. Dabei sind die Räume eher bescheiden, der größte und schönste Raum ist voll mit Sachspenden für die Geflüchteten. Der kleinere hintere Raum ist jetzt der Ort, wo gegessen und gespielt wird. Wir führen Gespräche und sehen ukrainische Kinder, die lachen und spielen, die draußen auf dem Klettergerüst hangeln oder mit der Kamera unseres Fotografen Bilder schießen. Sie erzählen von ihren Lieblingsspielsachen oder dass sie sich wirklich sehr gut morgens und abends die Zähne putzen und deshalb Süßigkeiten essen dürfen. Bei allen Einschränkungen ist es trotzdem ein Ort für Kinder, wo sie das auch sein können: Kinder.
Bei den Gesprächen mit den Müttern fällt auf, wie unterschiedlich sie mit der Situation umgehen. Es gibt Frauen, die auf gepackten Koffern sitzen, und andere, die schon Arbeit in Litauen gefunden haben. Eine Mutter arbeitet online von Litauen weiterhin für ihr ukrainisches Unternehmen. Eine andere putzt jetzt in einem litauischen Hostel. Eine Frau erzählt sehr viel, die Erinnerungen sprudeln nur so aus ihr heraus, eine andere spricht bedacht und sehr leise. Eine Mutter erinnert sich an den ersten Luftangriff auf ihren Wohnort. Sie sei in Panik gewesen, denn das Haus habe keinen guten Keller gehabt, dort hätte man sich nicht verstecken können. Als der Angriff begann, rannten sie deshalb auf die Straße, standen vor dem Haus und wussten nicht wohin.
In Kaunas sind sie jetzt alle seit ein paar Wochen. „Hier ist sie fröhlich“, sagt eine andere Mutter über ihre 9-jährige Tochter, als sie auf die Tagesstätte zu sprechen kommt. Aber abends weine sie, wenn sie mit dem Vater in der Ukraine sprechen. Mit leiser Stimme erzählt sie, wie schwer es war, sich für die Flucht zu entscheiden. „Abends während der Luftangriffe lagen wir auf dem Boden, haben geweint und uns vorgenommen, am nächsten Morgen zu gehen.“ Morgens wachten sie auf und dachten, vielleicht könne man doch noch bleiben, vielleicht wird es nicht noch mal so schlimm. Abends ging es dann wieder los, berichtet die Kiewerin. Ein Hin und Her, bis der 12-jährige Sohn entschieden hat: „Mama, lass uns gehen.“ Erst mit dem Evakuierungszug nach Polen, 20 Menschen in einem Vierer-Abteil. Dann mit dem Bus nach Kaunas. Hier gehen die Kinder wieder zur Schule, die Tochter schwärmt von ihrer großartigen Russischlehrerin Tatjana und von den Ausflügen, die sie mit den Betreuerinnen aus dem Tageszentrum machen – zum Schwimmen, in die Trampolinhalle, zum Bowlen.
Die Kinder brauchen Geborgenheit und Gemeinschaft
Zwei Pädagoginnen sind hier für die Kinder da, von 12-18 Uhr, mit Unterstützung der Managerin, die noch zwei weitere solche Tagesstätten leitet. Finanziert und fachlich unterstützt wird das Ganze von Save the Children. Mehr als 20 ukrainische Kinder haben sie jetzt hier, und mindestens genauso viele litauische. Einmal pro Woche kommt eine Psychologin vorbei. „Wer am wenigsten hat, gibt am meisten“, gibt die Leiterin der Tagesstätte uns als Erklärung, wie sie und ihr Team all das schaffen. Und auch für sie ist das, was die Kinder jetzt brauchen, ganz klar: Geborgenheit und Gemeinschaft.
Auf dem Weg zurück nach Vilnius bleiben zwei Gefühle zurück: Bewunderung für die Teams vor Ort und ihren Einsatz. Und Dankbarkeit für die Menschen, die diese Arbeit durch ihre Spenden und ihr Engagement überhaupt möglich machen.
Beim Abendessen geht es um verschiedene Themen, über die Freude beim Helfen und die enorme Solidarität der litauischen Bevölkerung, aber auch kurz um das gemeinsame sowjetische Kulturerbe, das die älteren Generationen in Litauen, der Ukraine und Russland teilweise noch verbindet. Es gibt einen sowjetischen Spielfilm, den jeder kennt, der in den 1980er-Jahren einen Oscar gewonnen hat, mitten im Kalten Krieg. Es ist die Geschichte einer alleinerziehenden Mutter, und der Film trägt den Titel „Moskau glaubt den Tränen nicht“, angelehnt an ein gleichlautendes Sprichwort. Es ist höchste Zeit, den Tränen zu glauben.
Ihre Spende kommt an
Save the Children hat gemeinsam mit der Frauenzeitschrift BRIGITTE die Aktion "Patin für Morgen" ins Leben gerufen, um Kindern und Familien in Konflikt- und Krisengebieten bestmöglich zu helfen. Als "Patin für Morgen" unterstützen Sie unseren 'Children's Emergency Fund', unseren Nothilfefond, mit dem wir schnelle Hilfe für Kinder in Notsituationen leisten. Helfen auch Sie Kindern, die dringend Unterstützung benötigen und tragen Sie dazu bei, dass wir unsere wichtige Arbeit fortsetzen können.