Hunderte unbegleitete Kinder erfahren Gewalt an Europas Grenzen
Hunderte unbegleitete Minderjährige auf der Flucht, die in Europa Schutz suchen, erfahren Gewalt, Missbrauch oder werden an den Grenzen illegaler Weise zurückgewiesen. Das zeigt ein neuer Bericht von Save the Children. Am heutigen Weltflüchtlingstag 2021 fordern wir die Bundesregierung und die Europäische Union auf, den systematischen Kinderrechtsverletzungen an den Grenzen Europas ein Ende zu setzen.

Heute sind so viele Menschen auf der Flucht vor Gewalt und Konflikten, wie noch nie zuvor. Das zeigt der neue Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), der kurz vor dem diesjährigen Weltflüchtlingstag veröffentlicht wurde. Demnach stieg die Zahl der Geflüchteten auf 82,4 Millionen an. Zwei Drittel der geflüchteten Menschen kamen aus nur fünf Ländern: Afghanistan, Myanmar, dem Südsudan, Syrien und Venezuela. Besonders erschreckend: Etwa 42 Prozent dieser Geflüchteten sind Kinder.
Kinder und minderjährige Jugendliche, die sich auf der Flucht befinden, sind auf ihrem Weg nach Europa zahlreichen Gefahren ausgesetzt – vor allem, wenn sie unbegleitet sind. Viele von ihnen erfahren mentalen und körperlichen Missbrauch oder werden Opfer von Menschenhandel. Institutionen, die eigentlich zu ihrem Schutz beitragen sollten, sind nicht selten Teil des Problems. An den Grenzen Europas angekommen, geht die Gewalt und Ausbeutung oftmals weiter. Zudem werden viele dieser Kinder und Jugendliche immer wieder an den Grenzen abgewiesen – obwohl sie minderjährig und häufig ohne Begleitung sind.
Das dramatische Ausmaß der Rechtsverletzungen gegen unbegleitete Kinder und Minderjähriger an den Grenzen Europas zeigt der aktuelle Bericht "Hidden in Plain Sight". Dieser beinhaltet Aussagen betroffener Kinder, welche Save the Children Italien mit dem Journalisten Daniele Biella entlang der Route an den italienischen Grenzübergängen in Oulx, Ventimiglia, Udine und Triest zusammengetragen hat.
Europa kann nicht mehr sagen: “Wir haben es nicht gewusst“
Auf ihrem Weg nach und durch Europa bewegen sich die Kinder oft zu Fuß, verstecken sich unter Lastwagen oder in Zügen oder werden von Schmugglern durch Wälder und Gebirge wie zwischen Italien und Frankreich transportiert, oft bei Nacht. Viele Kinder berichten von unmenschlichen Gräueltaten, vor allem entlang der Balkanroute, wo sie teilweise ausgeraubt, geschlagen, festgehalten, Gewalt ausgesetzt oder gezwungen wurden, sich zu entkleiden. Dies berichtet auch der 18-jährige Abdel*, der aus Pakistan nach Europa floh und in Kroatien von der Polizei festgehalten wurde.
Abdel* ist einer von vielen, die über das, wie die befragten Jungen es nennen, grausame "Spiel" der Grenzübertritte sprechen. Oft werden sie an den Außengrenzen der Europäischen Union mehrfach abgewiesen. Raffaela Milano, Direktorin der Europa-Programme von Save the Children Italien, betont, dass Europa nicht länger die Augen vor der Gewalt an den eigenen Grenzen verschließen kann.

Kinderrechte sind grenzenlos
Save the Children fordert Europa auf, Kinder vor Gewalt und anderen Formen des Missbrauchs zu schützen. In den Aufnahmecamps müssen sie umgehend angemessen versorgt werden. Dazu gehört auch der Zugang zu Bildung. Kinder dürfen weder inhaftiert noch in irgendeiner Form eingesperrt werden.
Außerdem fordern wir Italien und die europäischen Institutionen auf, eine effektive und unabhängige Überwachung der Grenzen zu gewährleisten und die Gemeinden entlang der Grenze zu unterstützen. Zudem müssen die illegalen und oftmals gewalttätigen Pushbacks an den EU-Augengrenzen aufgeklärt und als Rechtsverstöße geahndet werden.
Kinderrechte müssen überall gewährleistet sein – vor allem an den Grenzen der EU. Um illegale Zurückweisungen von schutzbedürftigen Kindern und Familien zu bekämpfen, haben wir die Petition "Kinderrechte sind grenzenlos" gestartet. Mit einer Unterschrift helfen Sie uns dabei, die Einhaltung von Kinderrechten an den EU-Außengrenzen einzufordern.
Unterstützung für geflüchtete Mädchen in Deutschland
Doch auch nach einer Aufnahme in Europa hören die Hürden für viele Kinder nicht auf. Seit 2015 sind etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche nach Deutschland geflohen. Hier in den Unterkünften für Geflüchtete angekommen, sind sie oftmals weiterhin vielfältigen Risiken ausgesetzt. Denn in Deutschland gibt es keine einheitlichen Standards zur Unterbringung von Geflüchteten. Dabei haben viele Menschen mit Fluchterfahrungen Gewalt und große Verluste erlebt. Sie benötigen psychosoziale Unterstützung, um das Erlebte zu verarbeiten, sowie einen geschützten Raum, in dem sie sich sicher fühlen können. Doch oft fehlt es in Unterkünften und Bildungseinrichtungen an geschultem Personal und Strukturen, um die Bedürfnisse und außergewöhnlichen Belastungen dieser Menschen aufzufangen.
Geflüchtete Mädchen und junge Frauen sind besonders schutzbedürftig. Denn sie sind einem hohen Risiko ausgesetzt, auf der Flucht Opfer von sexualisierter Gewalt, Ausbeutung und Diskriminierung zu werden. Zudem stehen viele von ihnen unter Druck, den oftmals gegensätzlichen geschlechtsspezifischen und religiösen Rollenerwartungen ihrer Familie und denen der deutschen Gesellschaft gerecht zu werden.
An diesem Punkt setzt das Projekt Mädchen. Machen. Zukunft. an, das Save the Children Deutschland mit der Unterstützung unseres langjährigen Partners IKEA initiiert hat. In dem Projekt erhalten geflüchtete Mädchen und junge Frauen in Gemeinschaftsunterkünften in Deutschland die soziale und psychologische Begleitung, die sie in dieser intensiven Zeit ihrer persönlichen Entwicklung brauchen. In Rückzugsräumen können sie sich mit Gleichaltrigen über ihre Wünsche und Sorgen austauschen. Geschulte Fachkräfte informieren die jungen Mädchen, aber auch Jungen und junge Männer, über ihre eigenen Rechte und helfen beim Umgang mit genderspezifischen Herausforderungen und Geschlechterrollen. Damit möchte das Projekt Mädchen. Machen. Zukunft. die junge Generation mit Fluchterfahrungen dazu anregen, ihre Zukunftsperspektiven aktiv zu gestalten.
*Name zum Schutz geändert