“Wo Evakuierung kein Spiel ist”
Die Gewalt in Gaza und dem südlichen Israel eskaliert immer weiter. Raketen- und Bombenangriffe versetzen zahlreiche Kinder und ihre Familien in Angst und Schrecken. Die Zahl der Verletzten und der Todesopfer auf beiden Seiten steigt täglich. Save the Children ist seit mehr als 30 Jahren im Nahen Osten tätig.* Zu unserem Team vor Ort gehört auch Osama Damo. Er arbeitet als Nothilfekoordinator für Save the Children in Gaza. In seinem Blogbeitrag schildert er seine Eindrücke der aktuellen Situation.
„Im Eingang unseres Wohnhauses in Gaza sitzen zwei, vielleicht sechsjährige, Mädchen. Sie lachen, während sie schnell verschiedene Dinge in ihre Rucksäcke packen. Fasziniert frage ich sie, was sie da spielen. Sie erzählen mir, dass ihr Spiel „Evakuierung“ heißt. Mein Herzschlag stockt. Diese Mädchen sollten den Schrecken einer Evakuierung nicht kennen, doch sie leben inmitten eines militärischen Konflikts. Diese Mädchen haben gelernt, sich vor einem Konflikt zu schützen, bevor sie das Alphabet gelernt haben.
Auch ich erlebe nun schon die dritte Eskalation der Gewalt in Gaza seit 2008 – doch dieses Mal ist es anders. Es ist schlimmer, der Blick nach Draußen ist erschreckender und die Liste der Opfer – besonders die der Kinder – ist länger.
„Ich fühle mich wie ein Gefangener“
Ich schreibe dies um 2 Uhr früh in dem engen Apartment, in dem ich mit meiner Familie lebe. Wir sind alle wach und das schon seit 7 Uhr gestern Morgen. Es ist unmöglich zu schlafen. Die Straßen sind menschenleer. Was uns nicht schlafen lässt sind die Geräusche von draußen: Das konstante, bienenähnliche Summen der umherfliegenden Drohnen. Das beängstigende Einschlagen der Bomben, die nahegelegene Gebäude treffen. Und vereinzelte Schreie gemischt mit zerbrechendem Fenstern und Glas. Die Luft ist erfüllt von beißendem Rauch und Zeichen der Explosionen. Die Gebäude erzittern bei jedem Bombeneinschlag.
Ich habe unser Apartment, ausgenommen von ein paar eiligen Versuchen uns Nahrungsmittel zu beschaffen, seit Tagen nicht verlassen. Ich fühle mich wie ein Gefangener hier.
„Die Wasserreserven gehen aus“
Die Situation wird von Tag zu Tag verzweifelter. Gaza ist eine Stadt voller Wohnhäuser. Der Strom reicht momentan nur für drei Stunden am Tag. Ohne Elektrizität können wir kein Wasser hoch in die Wohnungen pumpen. Die Hälfte der Wasserversorgung von Gaza ist zusammengebrochen, da die Bomben die Infrastruktur zerstört haben. Den Haushalten gehen langsam aber sicher die Wasserreserven aus. Außerdem wurden mindestens 85 Schulen und 23 medizinische Einrichtungen ernsthaft beschädigt, da sie in der Nähe der Angriffsziele lagen. Viele andere Schulen werden von Flüchtlingen als Notunterkunft genutzt.
Und das alles passiert in einer Stadt, in der schon vor dem Ausbruch der Gewalt 80% der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen war.
„Was sollen wir unseren Kindern sagen?“
Manchmal bleibt uns nichts anderes übrig als Witze über die Situation zu machen – so zynisch das auch klingt. Die letzte bewaffnete Offensive fand im Winter 2012 statt. Damals erzählten wir unseren Kindern, dass die Bomben nur Blitze und Donner seien. Doch jetzt, was sollen wir ihnen sagen? Es ist Sommer. Und so lachen wir freudlos und sagen einander, dass es vielleicht Zeit wird, unseren Kindern die Wahrheit zu erzählen.
Die Furcht in mir wird immer größer. Vor allem in Bezug darauf, welche Auswirkungen dieser Konflikt auf die Kinder haben wird. Was wird aus ihnen werden, wenn sie groß sind? Wenn sie sehen, dass Bomben so regelmäßig fallen wie Regen. Werden sie jemals Frieden erleben? Für viele Kinder auf beiden Seiten ist dieses Leben normal – und das ist eine Tragödie.
“Eine enorme Herausforderung für die Helfer”
Für Save the Children – seit 1973 in Gaza tätig – sind die Herausforderungen enorm. Unser Team vor Ort bringt sich oft selbst in Gefahr, um den Menschen zu helfen.
Gestern riskierten zwei Mitarbeiter ihr Leben, als sie medizinisches Material aus einem unserer Lagerhäuser in ein Krankenhaus brachten, in dem das Material ausging. Es sind heroische Taten wie diese, die helfen, öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser am Laufen zu halten. Krankenhäuser müssen ungehinderten Zugang zu Ausrüstung und Medikamenten haben, um die steigende Zahl der Verletzten und Kranken versorgen zu können.
Save the Children wird in den kommenden Tagen bei der Verteilung von 2.500 Hygienesets und 2.500 Babysets helfen. Außerdem wird ein kinderfreundlicher Raum eröffnet, sobald es die Situation zulässt. Hier bekommen Kinder psychosoziale Betreuung und einen Ort, an dem sie vergessen können, was sie durchmachen müssen.
„Die Gewalt muss endlich aufhören“
Das auch passiert, wir werden unsere Nothilfe für Kinder und ihre Familien auf beiden Seiten des Konflikts fortsetzen – doch die Gewalt muss endlich aufhören.
Save the Children fordert eine sofortige Waffenruhe und ein Ende der Gewalt, die unbeschreibliches Leid auf beiden Seiten verursacht.
Wir wissen, dass neben der Waffenruhe nur eine Einigung aller Parteien des Konflikts zu einer langfristigen Lösung führen kann, inklusive einem Ende der Blockade in Gaza.
Kein Kind – ob palästinensisch oder israelisch – sollte inmitten von Raketenangriffen, Evakuierungen und militärischen Konflikten leben müssen- schon gar nicht 3 solcher bewaffneten Auseinandersetzungen vor ihrem 7 Geburtstag erleben, wie die Mädchen im Flur. Im Namen unserer Kinder: Beendet die Gewalt!“
* Save the Children arbeitet unabhängig und unparteiisch auf der ganzen Welt – dort wo unsere Hilfe gebraucht wird. Derzeit sind wir in Gaza und im Westjordanland tätig. Als globale Organisation ist Save the Children gleichermaßen besorgt um das Wohlergehen der Kinder in Israel, im Westjordanland und in Gaza.