Zum Töten gezwungen
Gastbeitrag von Philipp Hedemann zum Red Hand Day, dem internationalen Tag gegen den Einsatz von Kindersoldaten. Jedes Jahr wird an diesem Tag an das Schicksal Tausender Kinder erinnert, die weltweit immer noch als Soldaten in den Krieg ziehen müssen. Hedemann ist freier Journalist und schreibt unter anderem für die Welt, die Neue Zürcher Zeitung am Sonntag und den Wiener Standard.

„Manchmal habe ich mich betrunken, bevor ich in die Schlacht zog, manchmal danach. Weil wir oft unter Drogen standen, haben wir Dinge getan, die wir sonst niemals getan hätten.“ Alkohol sollte Grâce à Dieu* helfen, das, was er tat, erträglich zu machen und das, was er getan hatte, zu vergessen. Es funktionierte nicht. Seitdem er 15 Jahre alt war, kämpfte im Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik als Kindersoldat. Der Red Hand Day am 12. Februar soll weltweit dazu aufrufen, Kinder und Jugendliche wie Grâce à Dieu endlich vor dem Dienst an der Waffe zu schützen.
Die meisten Kindersoldaten töten nicht freiwillig
„Als ich gekämpft habe, war ich mit allem, was wir getan haben einverstanden. Erst nachdem ich die Rebellen verlassen hatte, begann ich zu realisieren, was ich getan habe und bereute es sehr“, berichtet der heute 18-Jährige. Wie die allermeisten Kindersoldaten tötete er nicht freiwillig.
Grâce à Dieu saß an einem Sonntagmorgen im Dezember 2012 in der Kirche als die überwiegend muslimischen Seleka-Truppen sein Dorf überfielen. Die Rebellen hatten kurz zuvor einen Aufstand begonnen und stürzten später Staatschef François Bozizé. Der Putsch riss das Land in eine Spirale der Gewalt zwischen muslimischen und christlichen Milizen. Rund eine Million Menschen flohen, Tausende starben. Auch Grâce à Dieus Vater wurde von den Kämpfern geschlagen und verschleppt und tauchte nie wieder auf. Damit musste der älteste von sieben Brüdern und Schwestern plötzlich mit seiner Mutter für die Familie sorgen. Sich ausgerechnet der Miliz anzuschließen, die seinen eigenen Vater getötet hatte, erschien ihm die einzige Möglichkeit, an Geld, Essen und Kleidung für seine jüngeren Geschwister, seine Mutter und sich zu kommen.
Harter militärischer Drill macht die Kinder böse und unbarmherzig
Die Rebellen unterzogen den Jungen zunächst einem harten militärischen Drill. „So wollten sie uns böse und unbarmherzig machen“, wird Grâce à Dieu später berichten. Sobald der Schüler, der nie zuvor eine Waffe in Händen gehalten hatte, gelernt hatte, zu töten, musste er kämpfen. „Wir, die Kinder sind an die Frontlinie geschickt worden. Die anderen blieben weiter zurück. Ich habe mich immer bemüht, keine Unschuldigen zu töten, aber ich wurde Zeuge viele Gräueltaten und habe viele meiner Kameraden fallen sehen“, berichtet der unfreiwillige Soldat. Trotzdem bereute der Junge zunächst nicht, sich den Rebellen angeschlossen zu haben. „Ehrlich gesagt habe ich sehr gut gelebt. Wir haben geplündert und die Leute abgezockt. Wir haben keine Not gelitten. Wir haben sogar auf Matratzen geschlafen, die wir gestohlen haben“, berichtet der Junge, der bei den Rebellen sogar Rekruten gesehen haben will, die gerade mal acht Jahre alt waren.
Die Rückkehr in das alte Leben ist nicht leicht
Insgesamt 16 Monate zog er mordend und plündernd durchs Land, dann gelang es einheimischen Ältesten und Vertretern von Hilfsorganisationen, die Rebellenführer zu überzeugen Grâce à Dieu und weitere Kinder aus ihren Reihen zu entlassen. In einem Zentrum für ehemalige Kindersoldaten erhielt der Junge, der seit dem Tod seines Vaters nicht mehr zur Schule gegangen war, ein dreimonatiges Training als Automechaniker, dann kehrte er zu seiner Familie zurück und versucht seitdem, sich wieder in einem Leben zu recht zu finden, in dem es nicht nur darum geht, zu töten oder getötet zu werden. Für den Jugendlichen, dem eine Waffe die Kindheit raubte und ihm auch gegenüber Erwachsenen Macht verlieh, ist die Rückkehr in sein neues, altes Leben nicht leicht. Was im Krieg bei den Rebellen galt, gilt jetzt plötzlich nicht mehr.
Weltweit kämpfen Zehntausende Kinder
Offiziell ist die Zwangsrekrutierung von Kindersoldaten auf der ganzen Welt verboten, doch nach Schätzungen kämpfen weltweit immer noch Zehntausende Minderjährige, die meisten von ihnen für Rebellenorganisationen in Afrika, jeder dritte Kindersoldat soll ein Mädchen sein. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass zwischen 1990 und 2000 etwa zwei Millionen Kinder gefallen, sechs Millionen zu Invaliden wurden und zehn Millionen schwere seelische Schäden erlitten.
Reintegration kann gelingen
Die internationale Hilfsorganisation „Save the Children“ setzt sich in der Zentralafrikanischen Republik und in anderen Ländern, in denen Kinder zum Kämpfen gezwungen wurden oder werden, unter anderem mit Aufklärungskampagnen, Familienzusammenführungen, der Förderung von Schul- und Berufsausbildung und psychologischer Betreuung dafür ein, dass die Reintegration der oftmals schwer traumatisierten und stigmatisierten Kinder und Jugendlichen gelingen kann, keine weiteren Kinder als Soldaten eingezogen und bereits unter Befehl stehende Jungen und Mädchen wieder entlassen werden.
Auch reguläre Armeen berufen Kinder ein
Doch trotz der internationalen Ächtung ist der Kampf gegen die Rekrutierung von Kindersoldaten nicht nur in der Zentralafrikanischen Republik schwierig. Denn nicht nur skrupellose Warlords, auch reguläre Armeen berufen noch immer noch Jungen und Mädchen ein. Mit der im März 2014 begonnenen Kampagne „Kinder, nicht Soldaten“, setzt sich der UN-Sonderbeauftragte für Kinder in bewaffneten Konflikten zusammen mit dem UN-Kinderhilfswerk UNICEF dafür ein, dass zumindest in regulären Armeen bis Ende 2016 keine Minderjährigen mehr kämpfen müssen. Aber Rebellengruppen und Terrororganisationen wie der Islamische Staat oder Boko Haram werden Minderjährige auch danach noch als Selbstmordattentäter, Soldaten, Träger, Spione oder Sexsklaven für ältere Kämpfer einsetzen.
Gefühle werden systematisch abtrainiert
Denn Kinder sind leicht zu manipulieren, können oft noch nicht genau zwischen gut und böse unterscheiden, streben nach Anerkennung, können Gefahren nicht richtig einschätzen und sind sich der Finalität des Todes nicht bewusst. Gefühle werden ihnen zudem systematisch abtrainiert. So werden Kinder oft besonders brutale Kämpfer. Zudem sind sie billiger als reguläre Soldaten. Besonders oft werden Minderjährige, die wie Grâce à Dieu im Kämpfen und Plündern ihre einzige Verdienstmöglichkeit sehen, (zwangs-)rekrutiert. Manche Waisenkinder schließen sich den Kämpfern auch freiwillig an, weil sie den Tod ihrer eigenen Eltern rächen wollen und hoffen, bei den bewaffneten Gruppen Schutz zu finden. Tatsächlich werden sie oft an vorderster Front als Kanonenfutter verheizt. Falls sie den Krieg dennoch überleben, rutschen sie, wenn sie sich wieder in die Zivilgesellschaft eingliedern sollen, besonders oft in die Kriminalität ab, da sie im Krieg gelernt haben, sich mit Gewalt zu nehmen, was sie wollen.
Bemühungen zur Reintegration müssen verstärkt werden
Damit Kinder, die zum Kämpfen gezwungen werden, nicht wieder zu Tätern und Opfern werden, fordert Save the Children von der Zentralafrikanischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft, die Bemühungen zur Reintegration der bis zu 10000 ehemaligen oder noch unter Befehl stehenden Kindersoldaten zu intensivieren. „Nachdem sie monatelang gesehen haben, wie Menschen getötet wurden oder sogar selbst getötet haben, besteht die Gefahr, dass Kinder unter Depressionen, Angstzuständen und Trauer leiden. Sie brauchen professionelle psychologische Unterstützung. Ohne schnelle und nachhaltige Intervention könnte es passieren, dass viele weitere Kinder erstmalig oder erneut rekrutiert werden und dass diejenigen, die von bewaffneten Gruppen entlassen wurden, verarmen“, sagt Véronique Aubert, Expertin für Konflikte und Humanitäre Hilfe bei „Save the Children“.
Auch Grâce à Dieu, der jetzt andere Kinder davor warnt, sich bewaffneten Gruppen anzuschließen, wollte nach seiner Entlassung nur eines. Der ehemalige Soldat: „Mein größter Wunsch ist es, wieder zur Schule zu gehen. Ich habe früher so gerne gelesen.“
*Name geändert