Quarterly
Gemeinsam mehr bewegen

Unser Schwerpunkt:

Unsere Wünsche, unsere Hoffnungen für 2024   

Ein Beitrag von Jessica Sommer, Leiterin der Fundraising & Marketing-Abteilung

zwei Menschen halten Hand

Gehören Sie auch zu den Menschen, die am Ende des Jahres darüber nachdenken, was die Höhepunkte in diesem Jahr waren? Welche schönen Begegnungen Sie hatten und worauf Sie sich im nächsten Jahr freuen?

Für mich war ein Höhepunkt des Jahres 2023, nach meiner Elternzeit zu Save the Children zurückzukehren, um mich auch für die Kinder stark zu machen, die weniger wohlbehütet als meine eigenen Kinder aufwachsen können. Seit April leite ich die Fundraising-Abteilung und versuche gemeinsam mit Ihnen flexibler und schneller auf aktuelle Krisen zu reagieren. Wir bei Save the Children sind angetreten, die wachsende Not von Kindern und ihren Familien zu minimieren. Maximieren möchten wir jedoch die Unterstützung in der medizinischen Versorgung für Kinder, Frauen und Schwangere. Wir setzen alles daran, damit Kinder auf ihr verbrieftes Recht auf Bildung nicht verzichten müssen. Außerdem bilden wir Jugendliche aus, beraten Familien und helfen ihnen dabei, neue Existenzen aufzubauen. Und: Als Kinderrechtsorganisation wollen wir kein Kind zurücklassen, das Gewalt erfahren hat und traumatisiert ist. Unsere Projekte sind vielschichtig und basieren auf jahrzehntelange Erfahrungen im humanitären Bereich.

Allerdings erleben wir aktuell Zeiten, die von multiplen Krisen und Kriegen bestimmt werden. Schon 2022 war ein extremes Jahr. Und die Welt ist seither für Kinder nicht weniger gefährlich geworden. Vor kurzem titelte ein Magazin „Krieg und Krisen überall – Wie halten wir das aus?“ – eine berechtigte Frage. Doch mich treibt eher die Frage um: Welche Verantwortung erwächst daraus für uns, die wir in Frieden und Wohlstand aufgewachsen sind, für die Menschen in Not? Wie bleiben wir emphatisch? Mein Appell ist, nicht einen Konflikt gegen den anderen auszuspielen. Als internationale Kinderrechtsorganisation beschäftigen wir uns mit den akuten Krisen und auch mit den „vergessenen“ Konflikten.

Aktuell beschäftigen mich die Millionen afghanischen Familien, die aus Pakistan ausgewiesen werden und zum Teil in eine Heimat zurückkehren müssen, die für sie keine mehr ist. Oder die israelischen Kinder, die im Süden des Landes grausame Gewalttaten miterlebt haben, wie auch später die Kinder im Gazastreifen. Alles, was den Kindern vertraut war, ist zerstört. Sie erleben in ihrem jungen Leben schon Tod und Verlust. Das darf einfach nicht sein. Das wollen wir verhindern.

Und wie gehen Kinder mit den klimabedingten Krisen um, wenn sie erleben, wie Wassermassen ihr Zuhause davontragen? Wenn die Erde bebt und sie über Nacht alles verlieren? Oder die Millionen Kinder, die hungern, und Eltern, die nicht wissen, woher die nächste Mahlzeit kommen soll. Es ist viel.

Gerade deshalb möchte ich an dieser Stelle auch Hoffnungsvolles mit Ihnen teilen. Gute Nachrichten, die uns weiterhin motivieren, alles möglich zu machen, damit Kinder und Jugendliche eine Zukunft haben. Zum Beispiel will ich vom Mut einer Jugendlichen aus Sierra Leone berichten.

Kpemeh* war 12 Jahre alt, als ein deutlich älterer Mann sein Interesse bekundete, sie zu heiraten. Ihre Eltern stimmten zu. Doch das Mädchen widersetzte sich, sie argumentierte, dass sie die Schule weiter besuchen wolle und erkämpfte sich eine Frist von drei Jahren. Sie verließ sogar ihr Dorf, besuchte woanders die Schule, fuhr nicht mehr jedes Wochenende nach Hause, weil sie nicht bedrängt werden wollte. Nach drei Jahren zahlten die Eltern von Kpemeh das Schulgeld nicht weiter, damit sie mit 15 Jahren nach Hause kommen würde. Doch auch diese Maßnahme brachte Kpemeh nicht von ihrer Haltung ab. Im Gegenteil: Kpemeh zog zu Verwandten in ein anderes Dorf. Dort engagiert sich ihre Cousine Kuji* als Aktivistin gegen Frühverheiratung. In dieser Rolle hilft Kuji, andere Jugendliche über die Folgen der Frühverheiratung aufzuklären. Sie unterstützt sie darin, ihrem starken Wunsch nach Bildung nachzugehen. Mit Unterstützung des Save the Children-Projekts Frühverheiratungen beenden wurde Kpemehs Situation dem Dorfvorsteher gemeldet. Er stoppte die Heirat. Da Kinderehen gesetzlich verboten sind, mussten Kpemehs Eltern zudem eine Geldstrafe zahlen. Kpemeh hat sich Kuji angeschlossen und engagiert sich jetzt ebenfalls gegen Frühverheiratungen und zu frühe Schwangerschaften. Außerdem ermutigen sie andere Mädchen, wieder zur Schule zu gehen.

Und Kpemehs Eltern? Wie hat sich ihr Verhältnis zur Tochter entwickelt? Mittlerweile unterstützen sie sie; ihr Vater ermutigt Kpehme jetzt sogar, in der Schule zu bleiben und auf ihren Traum, Krankenschwester zu werden, hinzuarbeiten.

Zwei Frauen mit Blick in die Ferne

Wir sind für Kinder und Jugendliche da. In der Not und danach. Ohne Wenn und Aber und das seit mehr als einhundert Jahren. Wir sind in akuten Krisen und Konflikten an der Seite der Kinder, aber auch in den „vergessenen“, sei es im Jemen oder in Ostafrika. Gemeinsam entwickeln und setzen wir Projekte um, wie das in Sierra Leone gegen die Frühverheiratung von Mädchen. Sie sind mit Ihren großzügigen Spenden für diese Arbeit unerlässlich. Zusammen sorgen wir für eine bessere Zukunft aller Kinder.


Das Porträt:  

Katharina von Schroeder und ihr Einsatz für die Kinder des Sudan

Ein Beitrag von Aishe Malekshahi, Senior-Managerin Partnerschaften & Philanthropie

Das erste Mal habe ich Katharina von Schroeder im Fernsehen gesehen, in der Tagesschau um 20 Uhr. Katharina ist eine Mitarbeiterin von Save the Children und arbeitet in der Kommunikation im Sudan.

Portraitaufnahme von Katharina von Schroeder

Es ist Mitte April und ich sehe eine blonde, übermüdete Frau, die mit ihrem damals achtjährigen Sohn in einer Schule in der sudanesischen Hauptstadt Khartum festsitzt. Rückblickend sagt sie:

„Die Lage war sehr ernst, es waren Kampfflugzeuge über unseren Köpfen und Bomben explodierten nicht weit von uns. Panzer rollten durch die Stadt und es wurde Tag und Nacht gekämpft. Natürlich hatten wir Angst, aber wir haben auch versucht, das den Kindern nicht zu zeigen, um sie so weit wie möglich zu schützen. Es war ein großes Glück, dass wir mit unseren Freunden in der Schule waren. Dadurch konnten die Kinder miteinander spielen und waren abgelenkt. Als Erwachsene hatten wir Zugang zu verschiedenen Informationen und konnten uns austauschen und ergänzen. In so einer Lage gibt es sehr viele widersprüchliche Nachrichten und es war gut, dass wir da vergleichen konnten.“

Zehn Tage lang saß die Gruppe zusammen und keiner wusste, wie es weitergehen und wann es sicher sein würde, die Schule zu verlassen.

„Wir haben auch den Vorratskeller aufgebrochen und haben uns dort versteckt, sobald die Flugzeuge näherkamen. Es gab genug Lebensmittel und Wasser. Ich denke, dass wir insgesamt sehr viel Glück gehabt haben.“

Katharina gibt für zahlreiche deutsche Medien Interviews. In Berlin bangen wir, ob alles gut ausgehen wird. Bei jedem weiteren Interview sieht sie erschöpfter aus und bleibt trotz der Müdigkeit ungeheuer präzise und klar in den Beschreibungen, was um sie herum geschieht.

Im Sommer besucht uns Katharina im Berliner Büro. Wir lernen uns kennen und vereinbaren dieses Gespräch für den Winter. Mit etwas Abstand wollen wir darüber berichten, was sie damals in den Apriltagen erlebt hat und wie sich die Lage im Land weiterentwickelt hat.

Die Evakuierung

„Nach ca. 10 Tagen Konflikt organisierte unser Landesdirektor mit zwei weiteren internationalen Nichtregierungsorganisationen und der pakistanischen Botschaft einen Buskonvoi. Das war nicht einfach, viele Botschaften und Organisationen versuchten Reisebusse zu mieten. Der Landesdirektor ist persönlich zum Busterminal gegangen, trotz der anhaltenden Kämpfe, um den Bus zu mieten und sicherzugehen, dass er wirklich kommt. Dann hat er mich angerufen und gesagt, dass ich die Pässe zu Hause abholen muss und zu einem Sammelpunkt kommen soll, um am nächsten Tag loszufahren. An dem Tag war eine kurzzeitige Waffenruhe vereinbart worden, aber sie hielt nicht und wir hörten immer noch Explosionen, aber weniger als sonst. Das war wahrscheinlich der schwierigste Moment: Ich bin mit meinem Sohn allein ins Auto gestiegen, um nach Hause zu fahren, den Pass zu holen und ein paar Wertsachen.“

Katharina berichtet mir, dass sie in zehn Minuten den Koffer packte. 15 Kilo, kein Gramm mehr, vieles blieb in der Wohnung zurück. Der Buskonvoi bestand aus vier Bussen und sie fuhren einen ganzen Tag, bis sie die Hafenstadt Port Sudan am Roten Meer erreichten.

„Nach ein paar Tagen in Port Sudan wurde ich dann mit meinem Sohn auf einem französischen Kriegsschiff nach Jeddah, nach Saudi-Arabien evakuiert. Von dort aus ging es mit dem UN-Flugzeug bis nach Nairobi, wo wir uns erstmal etwas erholen konnten.“

Unsere Schutzmaßnahmen

Ich frage Katharina, wie sie sich und das Team im Sudan auf solche Situationen vorbereiten, ob wir sie für Ernstfälle schulen. Ja, das tun wir. Sie durchlaufen ein Training, das sich „Hostile Environment Awareness Training (HEAT)“ nennt. So unterstützen wir die Teams, Gefahren in ihrem Umfeld zu erkennen, Risiken zu reduzieren und bei Vorfällen angemessen zu reagieren. Die Gewalt in Khartum hatte allerdings niemand vorhergesehen. Katharina sagt, es gab keine Vorzeichen, keine Warnungen.

Die Filmemacherin

Katharina von Schroeder arbeitet seit mehr als zwei Jahren für Save the Children im Sudan und sie kennt viele afrikanische Länder. Mich interessiert, wie ihr Interesse für den Kontinent entstanden ist. Sie erzählt, dass sie zum ersten Mal vor Beginn ihres Studiums in Uganda war und zum zweiten Mal während ihres Studiums an der Babelsberger Filmuniversität. Gemeinsam mit einem Kommilitonen realisierte sie einen Film für den deutsch-französischen Kultursender arte. Bei den Recherchen lernte sie eine junge Uganderin kennen: 

„Sie hat mir damals über Rebellen in Norduganda erzählt, die Kinder aus ihren Häusern entführten, um für sie zu kämpfen, und die zu Gräueltaten gezwungen wurden um sie moralisch zu ‚brechen‘. Um ihre Kinder vor Entführungen zu schützen, schickten die Familien aus den Dörfern tausende von Kindern jeden Abend in die nächstgrößere Stadt, die damals durch das Militär gesichert war. Die Situation war damals in Deutschland nicht bekannt. Ich fuhr dorthin und drehte wenig später mit Kollegen von der Filmhochschule einen Beitrag über ein Friedensradio in Nord-Uganda. Das Erlebnis, in dieser Gegend zu sein, die tausende Kinder, die jede Nacht in die Stadt liefen und überall schliefen, das hat mich sehr geprägt. Danach bin ich immer wieder in verschiedenen Ländern auf dem Kontinent zurückgekehrt und eins hat zum anderen geführt.“

Es entstehen weitere Dokumentarfilme, wie „My globe is broken in Rwanda“ über den Genozid in Ruanda von 1994. In „Wir waren Rebellen – Krieg und Frieden im Südsudan“ erzählt Katharina vom Schicksal eines jungen Mannes, der als Kind von einer bewaffneten Gruppe rekrutiert worden war, dann floh und später wieder zurückkehrte, um beim Wiederaufbau des Südsudan dabei zu sein. 2011 wurde das Land unabhängig, doch der Frieden zwischen Südsudan und Sudan währte nicht lange. 2013 begannen die Kämpfe zwischen beiden Ländern und der Protagonist des Films griff wieder zu den Waffen, diesmal als Erwachsener. Auch wenn die Themen der Filme von Gewalt, Armut und von Kindern erzählen, die in dieser Not aufwachsen müssen, ist Katharina von Schroeder von den Begegnungen mit den Menschen fasziniert. Sie beschließt, in Afrika zu leben. In Khartum hat sie bis zum April insgesamt sieben Jahre gewohnt. Warum hat sie ihre Arbeit als Filmemacherin aufgegeben?

Katharinas Arbeit für Save the Children im Sudan

„Es war ein Wunsch, der über längere Zeit gewachsen ist. Ich habe viel in Weltgegenden gearbeitet, wo Kinder in Armut leben, keinen Zugang zu Bildung und ausreichend Nahrung haben, ihnen Gewalt angetan wird etc. In mir wuchs der Wunsch, Teil einer Organisation zu sein, die aktiv daran beteiligt ist, die Situation von Kindern zu verbessern. Dann hat sich die Stelle im Sudan ergeben und ich bin immer noch sehr froh darüber, dass ich den Wechsel gemacht habe, da ich die Arbeit von Save the Children sehr bereichernd und interessant finde.“

Save the Children hat im Sudan mehr als 300 Mitarbeiter im Land. Wie in vielen Ländern arbeiten wir auch hier mit lokalen Partnerorganisationen zusammen. Die Gewalt im Land, die Kämpfe haben dazu geführt, dass viele Nichtregierungsorganisationen, auch wir, im April die Büros von Khartum nach Port Sudan verlegt haben. Katharina von Schroeder lebt seit der Evakuierung aus dem Sudan in Uganda und arbeitet von dort aus. 

Die Herausforderungen für die Menschen im Sudan

„In Sudan leben jetzt auch die meisten Binnenvertriebenen weltweit, über sieben Million Menschen. Die humanitäre Lage ist schlecht, die Mangelernährung bei Kindern ist zum Beispiel rapide angestiegen, weil die Menschen nur sehr begrenzten Zugang zu Lebensmitteln haben. Es wurde essenzielle Infrastrukturen zerstört, wie Krankhäuser, Schulen, der Flughafen und auch eine große Brücke, die die beiden Nilufer verbindet. Über drei Millionen Menschen sind allein aus Khartum geflohen.“ 

Trotz der gefährlichen Umstände arbeitet das Team im Sudan weiter, wie Katharina von Schroeder schildert:

„Wir leisten in 14 von 18 Bundesländern Nothilfe, vor allem im Bereich Gesundheit, Ernährungssicherheit, Kinderschutz, psychosoziale Unterstützung und Bildung. Denn in vielen Bundesländern bleiben die Schulen geschlossen. Wir halten alternative Schulformen aufrecht und können so eine gewisse Routine und Schutz im Alltag anbieten.

Eine Mitarbeiterin untersucht das Kind auf Symptome der Mangelernährung.

Diese Unterstützung der Kinder und ihrer Familien ist dringend notwendig. Fast 700.000 Kinder sind schwer mangelernährt und mehr als 13 Millionen Kinder benötigen dringend humanitäre Hilfe. Save the Children ist die größte internationale Nichtregierungsorganisation im Sudan. Wir unterstützen 75 Ernährungs- und 56 Gesundheitseinrichtungen im gesamten Land und haben mit unserer humanitären Hilfe allein in diesem Jahr über 252.000 Personen, darunter mehr als 160.000 Kinder. Seit dem Konflikt im April konnten wir fast 100.000 Sudanesen unterstützen, darunter knapp 64.000 Kinder. In den Bundesstaaten Weißer Nil und Al Gezira arbeitet das internationale mobile Gesundheitsteam von Save the Children mit den lokalen Kliniken zusammen, um die Gesundheitsversorgung von Müttern und Kindern aufrechtzuerhalten und wo nötig, wieder aufzubauen. Die Teams impfen, etwa gegen Masern, und behandeln mangelernährte Kinder und ihre Familien. 

Unsere humanitäre Hilfe

Landkarte Sudan

Um die Menschen im Sudan möglichst gut zu unterstützen, einem Land, das fünfmal so groß ist wie Deutschland, arbeitet Save the Children mit lokalen Partnern und Gemeinden zusammen.

Denn Tag für Tag geht es für unzählige Menschen im Sudan ums Überleben. In den Medien spielt das Land jedoch keine Rolle mehr. Die Welt schaut auf die Entwicklungen im Nahen Osten, selbst die Ukraine rückt in den Hintergrund. Und so wird nicht mehr über den Hunger, die Kämpfe oder über die Not der Menschen im Sudan berichtet. Eine Entwicklung, die die Kommunikatorin Katharina von Schroeder umtreibt.

„Millionen von Kinder im Sudan leben in Konfliktzonen, vor allem in Khartum, der Darfur-Region und in Kordofan. Kinder sterben durch Bomben, Drohnenattacken und Querschläger. Kinder werden absichtlich auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit getötet. Kindern wurden lebenslängliche Verletzungen zugefügt. Und sowohl die politische als auch die mediale Aufmerksamkeit ist nach den ersten Wochen gesunken. Leider ist die Lage dramatischer als je zuvor und die humanitäre Krise im Sudan ist weltweit eine der größten. Es ist dringend nötig, mehr zu tun, vor allem für den Schutz von Kindern. Das heißt, vor allem ernsthaftes politisches Engagement und auch mehr Gelder, um die Zivilbevölkerung zu unterstützen.“

Hoffnungen

Am Ende unseres Gesprächs möchte ich gerne von Katharina wissen, welche Wünsche sie für ihre Wahlheimat hat.

„Für die Menschen im Sudan habe ich nur den Wunsch, dass es zu einem Friedenschluss kommt. Das Land hat extrem viel Potenzial, das im Moment leider nicht zu erkennen ist. Ich habe beeindruckende Menschen mit vielen kreativen Ideen und Mut dort getroffen. Ich hoffe, dass die dunklen Wolken, die die Vielfalt und Schönheit des Landes jetzt überdecken, wegziehen und die Menschen und vor allem die Kinder sich wieder voll entwickeln können.“


Was mich bewegt | Gedanken von
Florian Westphal

Kinderarbeit in Afghanistan

Florian Westphal im Gespräch mit Hassan im Ausbildungszentrum

Es gibt immer wieder überraschende Momente in meiner Arbeit für Save the Children, zuletzt in Afghanistan, in unserem Ausbildungszentrum in Jalalabad. Dort durchlaufen Jugendliche ein Trainingsprogramm mit dem Ziel, sich selbständig zu machen. Der 15-jährige Hassan* ist einer der Teilnehmer und beeindruckt mich mit seinem technischen Wissen. Kompetent erklärt er mir, wie man ein Mobiltelefon repariert. Damit der berufliche Start einfacher wird, erhalten die Jugendlichen am Ende ihrer sechsmonatigen Ausbildung ein Startkapital. Diese Form der Bildung und finanziellen Unterstützung ist notwendig geworden, seitdem in Afghanistan eine Regierung herrscht, die von keinem Land akzeptiert wird und der die internationalen Gelder gestrichen wurden. Seitdem erlebt die Bevölkerung unter den Taliban eine schwere wirtschaftliche Krise, die viele in große Existenznöte treibt. Dazu gehören auch Jugendliche wie Hassan. 

Die humanitäre Situation in Afghanistan

Afghanistan hat 43 Millionen Einwohner und davon benötigen 29,2 Millionen Menschen humanitäre Unterstützung. Ein Grund hierfür ist die von der Klimakrise verursachte Dürre. Die Folgen sind in weiten Teilen des Landes deutlich zu spüren: Böden werden unfruchtbar und Bauern geraten in existentielle Nöte. Hinzukommt, dass das Erdbeben Anfang Oktober im Westen des Landes mehr als 2000 Todesopfer gefordert hat. Und zuletzt hat das Nachbarland Pakistan vor kurzem begonnen, nicht registrierte Afghanen auszuweisen, die dort oft schon seit Jahren arbeiten und leben. Allein davon sind 1,3 Millionen betroffen. Diese Vielzahl an Krisen ist im Alltag mehr als deutlich zu spüren. 

Wir bilden aus, um die Kinderarbeit zu bekämpfen

So erzählt mir Hassan, dass er schon lange keine Schule mehr besucht hat, weil er arbeiten musste. Jeden Tag ist er mit einem schweren Handwagen durch Jalalabad gezogen und verkaufte seine Ware, um seine Familie zu unterstützen. Jetzt ist er froh, dass er diese schwere körperliche Arbeit gegen einen Ausbildungsplatz tauschen konnte. Mehr als 100 junge Männer zwischen 15 und 18 Jahren haben diese Ausbildung zum Handy-Techniker bisher durchlaufen – und 85% von ihnen arbeiten mittlerweile in diesem Bereich, und helfen somit ihren Familien. Unser Programm ist nicht nur auf Jungen ausgerichtet, auch Mädchen in dieser Altersgruppe werden von Save the Children unterstützt. Zum Beispiel lernen sie nähen und sticken, um von zu Hause eigenverantwortlich zu arbeiten. 

Früher, so berichten die Mädchen, die ich getroffen habe, arbeiteten sie vor allem als Haushaltshilfen bei anderen Familien. Diese jungen Menschen hatten keine andere Wahl: Sie mussten mitverdienen, um das Überleben ihrer Familien zu sichern, oft auch um die vorher gemachten Schulden der Familie abzudecken. Im Sprachgebrauch der humanitären Hilfsorganisationen reden wir von „coping mechanisms“. Damit sind Schritte gemeint, die Familien unternehmen, um eine Krise zu bewältigen. Zuerst werden häufig die Wertgegenstände verkauft, in der nächsten Stufe sparen Familien am Essen und an medizinischer Behandlung. Wenn all diese Maßnahmen zur Existenzsicherung nicht greifen, müssen Kinder arbeiten gehen. Kinderarbeit war immer schon ein Problem in Afghanistan, doch seit dem die de-facto Regierung an der Macht ist, arbeiten noch mehr Kinder als je zuvor. Im Mai dieses Jahres berichtete UNICEF, dass mittlerweile 1,6 Millionen Kinder unter gefährlichen Bedingungen arbeiten. Aber es sind wahrscheinlich noch mehr.

Landkarte Afghanistan

Die fatalen Auswirkungen von Kinderarbeit und wie wir dagegen vorgehen

Im Osten Afghanistans konnte ich mich selbst davon überzeugen, welche Risiken Kinder auf sich nehmen, um ihre Familie zu unterstützen. In einem Dorf unweit der Grenze zu Pakistan traf ich in Begleitung vom Rat der Dorfältesten eine Gruppe von 10 bis 12-jährigen Jungen. Man berichtete uns, dass diese Kinder Waren schmuggeln, indem sie sich in- oder unter den großen LKWs verstecken, die die Grenze tagtäglich in beide Richtungen überqueren. Geschmuggelt wird so gut wie alles, auch Nahrungsmittel wie Zucker. Die Kinder setzen sich großen Gefahren aus und einige sind bereits tödlich verunglückt oder schwer verletzt worden. Wir treffen in diesem Dorf einen Jungen, der ein Fuß verloren hat, ein anderer hat starke Verletzungen im Gesicht, weil er beim Verstecken im Laster mit ätzender Säure in Kontakt kam. 

Auch hier ist es die extreme Armut, die Eltern dazu zwingt, ihre Söhne diesen Gefahren auszusetzen. Save the Children arbeitet mit vielen Maßnahmen dafür, dass der Kreislauf von Armut und Kinderarbeit unterbrochen wird. Wir sprechen mit den Eltern und lokalen Autoritäten, um Abhilfe zu schaffen. Und wir unterstützen Bauern mit einem Saatgut, dass resistenter gegen Schädlinge ist. So können höhere Ernteerträge erwirtschaftet werden, das Einkommen reicht für die Familie besser aus und Kinder müssten nicht arbeiten gehen. Insgesamt hat Save the Children mehr als 200 Familien in der Region unterstützt. Außerdem wurden fünf Schutz- und Spielräume eingerichtet und die Zahl der Kinder im Dorf, die Waren geschmuggelt haben, ist deutlich gesunken.
Eine weitere wichtige Maßnahme ist die Ausbildung von Jugendlichen.

Langfristige Perspektiven für Kinder und Jugendliche schaffen

Nach meinem zweiten Besuch in Afghanistan bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass Nothilfe weiterhin gebraucht wird – zum Beispiel nach den verheerenden Erdbeben im Westen des Landes vor einigen Wochen – aber, dass sie auf Dauer den Kindern und Jugendlichen keine ausreichende Perspektive bietet. Trotz der von der de-facto-Regierung verhängten Dekrete, die den Zugang für Mädchen zu Bildung erheblich einschränken, können wir auch vielen von ihnen helfen. Zum Beispiel durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit von Frauen geführten afghanischen Hilfsorganisationen. Ich durfte bei dieser Reise einige dieser Frauen kennenlernen, und war sehr beeindruckt von ihrer Motivation und Tatkraft. Trotz der widrigen Umstände geben sie die Hoffnung nicht auf; deswegen sollten wir ihnen zur Seite stehen. Gemeinsam mit diesen couragierten Partnern in der afghanischen Zivilgesellschaft müssen wir uns jetzt dafür einsetzen, dass Kinder in Afghanistan eine bessere Zukunft haben können. 

 

* Namen zum Schutz der Personen geändert.