„Ohne internationale Unterstützung ist der Wiederaufbau Syriens unmöglich.“
Florian Westphal, Geschäftsführer von Save the Children Deutschland, ist im Mai 2025 nach Syrien gereist, um sich vor Ort ein Bild von der humanitären Lage zu machen. Er berichtet von zerstörten Schulen, mangelernährten Kindern und Familien, die ohne Unterstützung kaum überleben können. Trotz des Machtwechsels bleibt die Not dramatisch – und die internationale Hilfe reicht längst nicht mehr aus. Warum jetzt dringend gehandelt werden muss, erzählt er im Interview.

AUCH SECHS MONATE NACH DEM MACHTWECHSEL SIND IMMER NOCH FAST 17 MILLIONEN MENSCHEN IN SYRIEN AUF HUMANITÄRE HILFE ANGEWIESEN, DARUNTER RUND 7,5 MILLIONEN KINDER. WAS SIND DIE WICHTIGSTEN GRÜNDE DAFÜR?
Nach 14 Jahren Konflikt ist Syriens Wirtschaft stark geschwächt, Häuser und Infrastruktur sind weitgehend zerstört. Millionen Menschen wurden vertrieben und haben ihr Zuhause verloren. Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs sind für viele unerschwinglich. Eine ganze Generation von Kindern leidet unter schweren und dauerhaften psychischen Folgen, fehlender Bildung und mangelnder Gesundheitsversorgung. Obwohl sich die Sicherheitslage in den meisten Teilen Syriens verbessert hat, ist der humanitäre Bedarf aus diesen Gründen so groß wie nie zuvor.
SIE HABEN MIT ZAHLREICHEN KINDERN UND ELTERN GESPROCHEN. WIE SIEHT DENN DER ALLTAG DER MEISTEN FAMILIEN DERZEIT AUS?
Viele Familien wurden während des Konflikts mehrfach vertrieben und haben alles verloren. Ich habe zwei Tage in Rakka verbracht, wo die Armut besonders stark zu spüren ist. Eine Mutter, die wir mit ihrem achtmonatigen Sohn in unserem Ernährungszentrum getroffen haben, berichtete, dass sie Mahlzeiten ausfallen lässt, um ihre Kinder ernähren zu können. Und selbst dann reicht das Essen bei weitem nicht aus. Ihr kleiner Sohn ist schwer mangelernährt. Ihr Mann ist Tagelöhner und verdient nicht mehr als 15 US-Dollar die Woche, wenn er Arbeit finden kann. Drei ihrer Kinder sind im schulpflichtigen Alter, aber nur eines geht zur Schule, weil sie sich weder das Schulmaterial noch die Kleidung leisten können. Ihre älteste Tochter mussten sie mit 14 Jahren verheiraten. 2,4 Millionen Kinder können nicht zur Schule gehen und zu viele von ihnen müssen tagein, tagaus auf der Straße arbeiten.
WIE SEHR LEIDET DIE BEVÖLKERUNG, INSBESONDERE AUCH DIE KINDER, UNTER DEN LANGFRISTIGEN PSYCHOLOGISCHEN FOLGEN DES KRIEGES?
Für die Kinder sind die Folgen des Konflikts sehr belastend. Sie haben unsagbare Gewalt sehen und erfahren müssen. Sie wurden mehrfach vertrieben, viele konnten und können weiterhin nicht zur Schule gehen. Wir haben mit einem 14-jährigen Mädchen gesprochen, das eine Wachstumstörung hat und in einem unserer Kinderschutzprogramme aufgenommen wurde. Sie sagte, dass sie sich nur hier sicher fühlt. Diese Kinder haben ihre Kindheit verloren und es ist wichtig, dass sie jetzt die Unterstützung erhalten, die sie brauchen, um ihre Traumata zu verarbeiten. Dafür setzt sich Save the Children verstärkt ein.
SIE HABEN ERNÄHRUNGS- UND BILDUNGSPROGRAMME BESUCHT. WIE GUT KOMMT DAS LAND MIT DEM WIEDERAUFBAU VORAN?
Viele Schulen wurden im Konflikt zerstört oder dienen als Notunterkünfte für Binnenvertriebene. Darüber hinaus fehlt die Grundversorgung, vor allem mangelt es an Gesundheitsdiensten und Fachkräften, bezahlbaren Medikamenten und Wohnraum. Es wurde so viel zerstört, ganze Nachbarschaften liegen in Trümmern, und die Wirtschaftskrise erschwert den Wiederaufbau. Ohne internationale Unterstützung und Investitionen ist der Wiederaufbau Syriens unmöglich.
DIE SITUATION FÜR DIE BEVÖLKERUNG BLEIBT AUCH WEGEN DER ANDAUERNDEN KÄMPFE ZWISCHEN VERSCHIEDENEN GRUPPEN IN SYRIEN INSTABIL. DIES HAT ZUR FOLGE, DASS MILLIONEN VON MENSCHEN NACH WIE VOR AUF DER FLUCHT SIND. WIE WAHRSCHEINLICH IST ES, DASS SIE IN ABSEHBARER ZEIT IN IHRE HEIMATREGIONEN ZURÜCKKEHREN KÖNNEN?
Manche Städte, wie zum Beispiel Harasta – fünf Kilometer außerhalb von Damaskus – liegen komplett in Trümmern. Wir haben mit Müttern gesprochen, die nach dem Machtwechsel voller Hoffnung mit ihren Kindern in ihre Heimat zurückkehrten und dort nichts als Zerstörung vorfanden. Sie haben alles verloren und wohnen jetzt in ausgebombten Häusern ohne Fenster und Türen. Zudem ist die Inflation so hoch und die Wirtschaftskrise so extrem, dass viele Familien sich nur wenig leisten können – auch Arbeit ist schwer zu finden. So wie es jetzt steht, ist eine sichere Rückkehr unmöglich. Syrien braucht Investitionen, um aus dieser Krise herauszukommen.
VIELE INTERNATIONALE HILFSGELDER WURDEN GEKÜRZT, WAS BEDEUTET DAS FÜR DIE ARBEIT DER HILFSORGANISATIONEN?
Die Hilfskürzungen verschärfen die aktuelle Krise dramatisch. Das Ernährungszentrum, das ich besucht habe, musste wegen der internationalen Hilfskürzungen kurzzeitig schließen und wird die Arbeit langfristig einschränken müssen. Die jetzige Finanzierung ist nur noch für die nächsten vier Monate gesichert. Unsere Kollegin fürchtet, dass die Fälle von Mangelernährung und Kindersterblichkeit aufgrund der Kürzungen wieder zunehmen werden. Eine Mutter, die ihr Baby an den Folgen von Mangelernährung verlor, sagte: ‚Bitte halten Sie das Zentrum offen, ich möchte nicht, dass andere Mütter das Gleiche erleiden müssen, wie ich.‘ Diese Hilfskürzungen gefährden viele unserer Programme und damit auch Kinderleben. Auch das Bildungsprogramm, das wir besucht haben, kann nicht weitergeführt werden, weil die Finanzierung fehlt, und nun werden Hunderte von Kindern nicht mehr lernen können, und einige von ihnen werden wieder auf der Straße arbeiten müssen. So wie der zwölfjährige Amjad*, der gerade erst lesen und schreiben gelernt hat und jetzt wohl wieder auf der Straße nach Wertgegenständen suchen muss und dadurch vielen Gefahren, darunter Gewalt und Blindgängern, ausgesetzt ist. Deshalb ist es so wichtig, für Syrien zu spenden und dass die neue Bundesregierung weiterhin ausreichend Mittel zur Verfügung stellt, um Syrien auf dem Weg in eine bessere Zukunft zu unterstützen.
WAS BRAUCHEN DIE MENSCHEN VOR ORT, WAS MUSS GETAN WERDEN UND WIE KÖNNEN WIR ALLE HELFEN?
Nach so vielen Jahren Krieg, Vertreibung und Zerstörung brauchen die Menschen in Syrien jetzt vor allem Sicherheit, Stabilität und einen dauerhaften Frieden. Viele Familien haben alles verloren, und die starke Wirtschaftskrise gepaart mit den internationalen Kürzungen der Hilfsgelder verschärfen die Not. Eine Aufstockung der Finanzmittel ist unerlässlich, um den unmittelbaren Bedarf der Familien, einschließlich der Grundversorgung, zu decken. Darüber hinaus sind langfristige Investitionen unter anderem in Bildung, das Gesundheitswesen, die Wirtschaft und Infrastruktur unerlässlich für den Wiederaufbau des Landes. Es müssen Perspektiven für die Menschen geschaffen werden. Ich habe ein zehnjähriges Mädchen getroffen, das in einer Notunterkunft lebt und eines Tages Astronautin werden möchte – ihr größter Wunsch ist es, wieder zur Schule gehen zu können. Für diese Kinder und ihre Familien setzen wir uns bei Save the Children ein – und sind über jede Spende dankbar.
*Name zum Schutz der Person geändert