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Kinderarmut in DeutschlandInterviewPublisher Save the Children21.07.2023Kinderarmut in Deutschland

Kinderarmut in Deutschland: "Wir haben ein großes Problem!"

Eric Großhaus ist in der politischen Abteilung von Save the Children Deutschland für die Themen Kinderarmut und soziale Ungleichheit zuständig. Im Interview erklärt er, was Armut für Kinder in Deutschland bedeutet und welche politischen Maßnahmen es braucht, um Kinderarmut endlich zu beenden.

Fast jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Einfachste Dinge des Alltags - wie das Eis an der Eisdiele - sind für sie nicht erschwinglich. © Shutterstock

Die Sommerferien stehen vor der Tür und für viele Kinder bedeutet das: Urlaub, Freibad und Eis essen gehen. Doch was für viele selbstverständlich ist, können sich über 2,8 Millionen Kinder in Deutschland einfach nicht leisten. Denn: Etwa jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen.

Doch wie kann es sein, dass in einem reichen Land wie Deutschland so viele Kinder in Armut leben?



Wann gilt ein Kind in Deutschland als arm?

Ein Kind gilt in Deutschland als arm, wenn es unter Umständen aufwächst, die deutlich schlechter als der durchschnittliche Lebensstandard sind oder in einem Haushalt lebt, der auf Leistungen zur Existenzsicherung angewiesen ist. Hatte beispielsweise eine vierköpfige Familie weniger als 2.730 € netto im Monat zur Verfügung, gilt sie 2020 als einkommensarm.

Eric Großhaus: Kinderarmut ist in der Regel Familienarmut und vor allem ein Mangel an Geld. Das kann vielfältige Ursachen haben.

  • Oft sind die Eltern oder Erziehungsberechtigten arbeitslos geworden und finden keine neue Stelle. Gesundheitliche Probleme können sich durch Arbeitslosigkeit und Armut weiter verschlechtern, denn Arbeitslosigkeit ist ein großer psychischer, krankmachender, Stressfaktor.
  • Es gibt aber auch viele Familien, die trotz Arbeit nicht ausreichend Geld verdienen. Viele Arbeitslosengeld II-Beziehende sind gar nicht arbeitslos, sondern müssen ihr geringes Einkommen mit existenzsichernden Leistungen aufstocken, beispielsweise weil sie alleinerziehend sind oder sie aus gesundheitlichen Gründen nur vermindert arbeiten können. 
  • Eingewanderte Menschen haben zusätzliche Herausforderungen bei der Jobsuche zu meistern und sind oft von Diskriminierung oder fehlenden Arbeitserlaubnissen betroffen. Ähnliches gilt für Menschen mit Behinderung, deren Inklusion in Arbeit nicht ausreichend gewährleistet ist.

All dies führt dazu, dass vor allem Kinder in alleinerziehenden Haushalten oder in kinderreichen Familien sowie Kinder in Familien nicht-deutscher Herkunft besonders von Armut betroffen sind. Die staatlichen existenzsichernden Leistungen und sonstigen sozial- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, wie sie momentan ausgestaltet sind, können all dies nicht effektiv ausgleichen. Dazu kommt: Viele Menschen nehmen keine Sozialleistungen in Anspruch, die ihnen gesetzlich zustehen. Der bürokratische Aufwand, die Angst vor dem Jobcenter oder das Stigma, das mit dem Leistungsbezug verbunden ist, können Gründe für die Nicht-Inanspruchnahme von "Hartz IV" und anderen Leistungen sein.


Kinderarmut und Armut generell sind ein gesamtgesellschaftliches Problem, das durch einen solidarischen Sozialstaat bekämpft werden kann und muss. Kein Kind sollte in einem so reichen Land unter Armutsbedingungen aufwachsen müssen.

Eric Großhaus, Advocacy Manager bei Save the Children Deutschland

Wie wirkt sich Armut konkret auf das Leben eines Kindes aus?

Eric Großhaus: Zur Sommerferien- und somit Reisezeit bietet sich das Beispiel Urlaub exemplarisch an: Von Armut betroffene Kinder können oftmals nicht oder nur äußerst selten in den Urlaub fahren, weil ihren Eltern das Geld für Hotel, Bahnfahrt oder Flug fehlt. Auch andere Freizeitaktivitäten sind für viele Familien nicht einfach so machbar, schon gar nicht regelmäßig. Wenn alle Kinder nach den Sommerferien von ihren Erlebnissen erzählen, kann das für armutsbetroffene Kinder zu einem belastenden Start ins neue Schuljahr führen. Sie konnten all die Dinge, die ihre Mitschüler*innen so selbstverständlich berichten, oft nicht tun. Das Problem zieht sich in alle Lebenslagen. 

Teurere Hobbies, regelmäßige Restaurant- oder Kinobesuche, neue Sportschuhe, wenn die alten kaputt sind… all das ist für Kinder, die in Armut leben nur eingeschränkt möglich. Hinzu kommt oft auch Scham darüber, all diese Dinge nicht tun zu können. Stigmatisierung und Mobbing können das verstärken und kommen zu den sonstigen Belastungen der Armut dazu – das ist für viele Kinder eine ganz schwer erträgliche Situation.

Eric Großhaus


Einmal arm, immer arm?

Kinder, die in Armut aufwachsen, haben ein größeres Risiko, auch als Erwachsene in Armut zu leben. Der Bildungserfolg ist in Deutschland stark abhängig vom Hintergrund der Eltern, der soziale Aufstieg ein steiniger Weg. Wenn er glückt, ist er in vielen Fällen mit Selbstzweifeln und dem Gefühl des Nicht-Dazu-Gehörens verbunden. 

Auch eine gesunde und ausgewogene Ernährung ist mit wenig Geld kaum machbar – das bedeutet: Es gibt eher günstige und sattmachende Lebensmittel wie Nudeln statt ausreichend Obst und Gemüse. Viele Familien in Deutschland sind daher auf spendenbasierte zusätzliche Angebote der Tafeln angewiesen. Dabei sollte eigentlich der Sozialstaat dafür sorgen, dass sich jedes Kind in jeder Lebenslage gesund ernähren kann. Auch die Wohnverhältnisse sind beengter. Es gibt weniger Rückzugsmöglichkeiten oder keinen ruhigen Ort, um zu lernen. Arme Familien leben häufiger in lauten und verkehrsreichen Gegenden mit weniger Grünflächen und Freizeitmöglichkeiten. Insgesamt sind die Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern in Armut deutlich eingeschränkt. Das können wir als Gesellschaft nicht einfach so hinnehmen.


Wie hat sich die Corona-Pandemie auf Kinderarmut in Deutschland ausgewirkt?

Eric Großhaus: Die Pandemie hat die Situation noch einmal deutlich verschärft. Der aktuelle Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zeigt einen Anstieg der Einkommensarmut im Pandemiejahr 2021 auf einen Höchststand von 16,6 Prozent der Gesamtbevölkerung, also 13,8 Millionen Menschen. Das sind 600.000 mehr als vor der Pandemie. Jenseits dieser Zahlen wissen wir, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie gravierende Auswirkungen auf Kinder hatten, die von Armut betroffen sind.

  • In den Lockdowns fielen zum Beispiel viele kostenfreie Angebote weg. Die technische Ausstattung armutsbetroffener Kinder war für das Home-Schooling deutlich schlechter und das Lernen und Leben spielte sich oft in beengten Wohnverhältnissen ab.
  • Familien im "Hartz IV"-Bezug mussten oft lange auf Einmalzahlungen warten, die die zusätzlichen pandemiebedingte Kosten, zum Beispiel Hygieneartikel wie Masken, einigermaßen abfederten. Auch die Beschaffung von technischer Ausstattung für den Distanz-Unterricht war für viele armutsbetroffene Familien ein kaum zu stemmender Kraftakt.
  • Ein zusätzliches Problem war der Wegfall von kostenlosem Schul-, oder Kita-Mittagessen im Zuge der Einrichtungsschließungen. Auch das bedeutete zusätzliche finanzielle Belastungen für einkommensarme Familien.
  • Die Einkommenssituation vieler Familien hat sich zudem durch Kurzarbeit verschlechtert und die schlechte Lage am Arbeitsmarkt führte zu einer Verfestigung von Arbeitslosigkeit mit über einer Million langzeitarbeitslosen Menschen auf dem Höchststand.

Was möchte Save the Children gegen Kinderarmut unternehmen?

Eric Großhaus: Wir möchten uns noch stärker und fokussierter für Kinder einsetzen, die in Deutschland in Armut leben. Mit unseren eigenen Programmen wollen wir zukünftig noch verstärkter Kinder erreichen, die aufgrund ihres Hintergrundes benachteiligt sind. Das tun wir bereits in unseren vielen Projekten in Deutschland, etwa im Bildungsbereich. Weitere Projekte, die sich direkt mit dem Thema Kinderarmut befassen, sollen folgen.

Außerdem werden wir uns politisch dafür stark machen, dass Kinderarmut effektiv bekämpft wird und es wirksamere politische Maßnahmen gibt, die die Situation von benachteiligten Kindern in Deutschland verbessern.

 

Wir sehen: Die existierenden politischen Antworten sind oft nicht gut genug aufeinander abgestimmt. Etwas plakativ formuliert: Vieles ist gut gemeint, aber leider nicht immer gut gemacht.

Eric Großhaus


Kindergrundsicherung

Die Kindergrundsicherung soll die vielen staatliche Leistungen für Kinder bündeln und dafür sorgen, dass jedes Kind abgesichert ist.

Die politischen Verantwortungsträger*innen müssen diese Legislaturperiode nutzen, um Kinderarmut endlich energisch zu bekämpfen. Dazu sind viele verschiedene Maßnahmen nötig. Es gibt ein paar sehr gute Ideen im Koalitionsvertrag, wie zum Beispiel die Kindergrundsicherung, die den Antragsdschungel abschaffen könnte. Diese große Reform muss unbedingt kommen und darf nicht scheitern. Auch das neue Bürgergeld muss mehr zur Armutsverhinderung beitragen, als es "Hartz IV" tut.


In Zeiten ständig steigender Lebenshaltungskosten sind Anpassungen der Leistungen und weitere zielgenaue finanzielle Unterstützungen für arme Familien essenziell. Die Preise für Lebensmittel und Energie sind für Menschen mit wenig Geld kaum noch tragbar. Wir stehen hier vor einem großen Problem: Ohnehin schon knapp bemessene Leistungen zur Existenzsicherung werden de facto durch die Preissteigerungen noch weiter entwertet. Das muss unbedingt durch Erhöhungen ausgeglichen werden.

Eric Großhaus

Aber es muss auch weiter in soziale Infrastruktur investiert werden, damit jedes Kind, egal mit welchem sozialen und ökonomischen Hintergrund, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann und die Kinderrechte immer eingehalten werden. Investitionen in Bildung und die Schaffung von Bildungsgerechtigkeit sind ebenso wichtig, um den in vielen Fällen vorhandenen Teufelskreis aus Bildungsbenachteiligung und Armut zu durchbrechen.

Zusammengefasst: Wir haben ein großes Armutsproblem in Deutschland. Aber die Lösungen liegen auf dem Tisch – jetzt muss die Politik "nur noch" entschlossen handeln. Der Wohlstand in diesem Land muss gerechter verteilt und endlich Chancengleichheit für jedes Kind hergestellt werden. 

Eric Großhaus ist Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt auf soziale Ungleichheiten sowie Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Vor seiner Zeit bei Save the Children hat er in Wohlfahrtsverbänden zu den Themen Arbeitslosigkeit und Armut gearbeitet. Das Thema Kinderarmut liegt ihm am Herzen, weil soziale Ungleichheit und Armut keine unveränderlichen Zustände sind. Er findet: "Als Gesellschaft können und müssen wir mehr tun, um unseren Wohlstand anders zu verteilen. Ich möchte mit meiner Arbeit einen Teil dazu beitragen, unsere Gesellschaft sozial gerechter zu machen."

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