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Kinderarmut in DeutschlandPublisher Save the Children15.09.2023Kinderarmut in Deutschland

Referentenentwurf: “Das ist noch keine echte Kindergrundsicherung.”

Die Kindergrundsicherung wurde in den letzten Wochen und Monaten viel diskutiert. Nun liegt im Gesetzgebungsverfahren zur Kindergrundsicherung ein Referentenentwurf aus dem federführenden Bundesfamilienministerium vor. Wir haben Eric Großhaus, unseren Advocacy Manager für Kinderarmut und soziale Ungleichheit, gefragt, was er von dem Entwurf hält.

Grafik Gesetzentwurf Kindergrundsicherung

Du hast dich durch die 124 Seiten des Entwurfs für die Kindergrundsicherung gearbeitet. Was sind deine größten Kritikpunkte?  

Eric Großhaus: Eine echte Kindergrundsicherung, die Kinder vor Armut schützt und ihr gesundes Aufwachsen und soziale Teilhabe sicherstellt, ist das, was im Entwurf steht, noch nicht. Der größte Kritikpunkt ist die Leistungshöhe. Bei der Berechnung des Existenzminimums von Kindern wird nur an kleinen Stellschrauben gedreht. Wie viel Geld dadurch mehr bei Kindern in Armut ankommt, lässt sich anhand des Entwurfs noch nicht genau sagen.

Regelsätze weiterhin zu niedrig



3,48 Euro

Im momentanen Leistungssystem stehen für unter 6-jährige Kinder im Bürgergeld nur 3,48 Euro pro Tag für Nahrungsmittel zur Verfügung. Für eine gesunde Ernährung ist das viel zu wenig.

Sicher ist aber, dass es keine systematische Neudefinition dessen gibt, was es für jedes Kind zu jeder Zeit braucht. Hieran ändert der Gesetzentwurf aber leider nichts. Es bleibt bei systematisch zu niedrigen Regelsätzen und kaum Verbesserungen für Kinder.  

Kindergrundsicherung erreicht nicht alle Kinder

Außerdem erreicht die Kindergrundsicherung, wie der Gesetzentwurf sie vorsieht, nicht jedes Kind. Geflüchtete Kinder im Asylverfahren bleiben außen vor und bekommen weiterhin die noch niedrigeren Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes. Bei ihnen werden an den ohnehin zu niedrigen Regelsätzen des Bürgergeldes noch weitere Streichungen vorgenommen. Die Kindergrundsicherung ändert an diesem für uns unhaltbaren Zustand leider nichts zum Besseren. Dabei haben alle Kinder in Deutschland gemäß der UN-Kinderrechtskonvention, die auch hier gilt, die gleichen Rechte auf ein gesundes Aufwachsen und soziale Teilhabe.  


Gibt es auch Positives? 

Eric Großhaus: Grundsätzlich ist der Ansatz richtig, Leistungen zu bündeln und zu vereinfachen. Das macht der uns vorliegende Entwurf der Kindergrundsicherung, indem aus Kindergeld, Kinderzuschlag und den Mitteln für Kinder in Bürgergeld und Sozialhilfe ein Leistungssystem mit einer zuständigen Behörde, dem neuen Familienservice, für die existenzsichernden Geld-Leistungen für Kinder wird. Dadurch kann es für Familien einfacher werden, die Leistungen zu bekommen, auf die sie einen Anspruch haben. Das ist ein wichtiger Schritt.

Erste Schritte in richtige Richtung

Aber auch hier gibt es leider Einschränkungen, weil zum Beispiel manche Kinder, deren Eltern im Bürgergeld sind, weiterhin auch Leistungen vom Jobcenter bekommen. Etwa wenn sie mehr Geld brauchen, weil sie wegen einer Erkrankung höhere Kosten für spezielle Ernährung haben. Das stellen wir uns noch besser vor: Die Kindergrundsicherung sollte alle existenzsichernden Leistungen von allen Kindern abdecken und Doppel-Strukturen vermeiden.  

Kindergrundsicherungs-Check als guter Ansatz

Mit dem sogenannten Kindergrundsicherungs-Check sieht der Entwurf auch vor, dass eine Vorab-Prüfung mit Daten erfolgt, die unterschiedlichen Behörden bereits vorliegen. Es wird berechnet, ob Familien zusätzliche Unterstützungsleistungen bekommen könnten, weil ihr Einkommen zu gering zur Sicherung der Existenz ihrer Kinder ist. Wenn diese Vorab-Prüfung zum Ergebnis kommt, dass es wahrscheinlich ist, dass die Familie mehr Ansprüche auf Sozialleistungen hat, wird sie angeschrieben und darauf hingewiesen, wie sie einen Antrag stellen kann. Das ist grundsätzlich ein guter Schritt, damit mehr Familien ihre Ansprüche kennen und wahrnehmen. Diesem guten Ansatz fehlt es im Detail allerdings noch an Durchschlagskraft. Die Genauigkeit der Vorab-Prüfung ist noch ungewiss und die Daten, die dafür von den unterschiedlichen Behörden ausgetauscht werden sollen, dürfen danach nicht für den Antrag genutzt werden. Außerdem handelt es sich gemäß Gesetzentwurf um eine „Kann-Leistung“ des Familienservice – ob und wann der Kindergrundsicherungs-Check durchgeführt wird, hängt damit vom Ermessen der Behörde ab.  

Das ist noch nicht der Paradigmenwechsel, den es braucht, damit alle Familien ihre Ansprüche kennen und abrufen, damit dringend benötigtes Geld auch wirklich bei den Kindern ankommt – aber es sind erste Schritte in die richtige Richtung. 

Eric Großhaus, Advocacy Manager für Kinderarmut und soziale Ungleichheit bei Save the Children Deutschland

Wie geht es mit dem Gesetzgebungsverfahren zur Kindergrundsicherung jetzt weiter? 

Eric Großhaus: Nachdem ein finaler Entwurf der Bundesregierung hoffentlich bald zwischen den Ministerien abgestimmt ist und im Bundeskabinett verabschiedet wurde, startet das parlamentarische Verfahren. Der Gesetzentwurf wird dann im Bundestag beraten und aller Voraussicht nach weiter verändert. Nach einem Beschluss des Bundestages muss auch der Bundesrat zustimmen, auch hier kann es nochmal zu Änderungen im sogenannten Vermittlungsausschuss kommen. Es gibt also noch einige Hürden zu überwinden, bis das Gesetz wirklich fertig und beschlossen ist. Die Kindergrundsicherung soll laut Bundesregierung 2025 in Kraft treten. Wir hoffen, dass sich dieser Zeitplan umsetzen lässt und alle Kinder in Deutschland 2025 besser mit höheren Unterstützungsleistungen zur Sicherung ihrer Teilhabe und ihres gesunden Aufwachsens erreicht werden.  

Was fordert Save the Children? 

Eric Großhaus: Wir fordern insgesamt mehr Mut und Willen zu Veränderungen, die der Dringlichkeit des Problems gerecht werden. Momentan leben allein etwa 2 Millionen Kinder in Haushalten mit Bürgergeld und somit Regelsätzen, die an allen Ecken und Enden zu knapp bemessen sind. Das Wohl und die Interessen dieser und aller anderer Kinder müssen bei der Kindergrundsicherung im Mittelpunkt stehen. Dafür müssen sie auch im Gesetzgebungsverfahren beteiligt und gehört werden. Sparüberlegungen und Diskussionen über Erwerbsanreize sollten dem Wohl der Kinder nachgeordnet sein. Drei Forderungen möchte ich konkreter ausführen:  

1. Gesunde Ernährung für alle Kinder sicherstellen 

Die Berechnung des sozio-kulturellen Existenzminimums muss systematisch auf bessere Beine gestellt werden und dadurch deutlich mehr Geld bei Kindern in Armut ankommen. Kleine Stellschrauben reichen nicht. Die viel zu geringen Mittel für Ernährung angemessen zu erhöhen, ist zum Beispiel eine Messlatte für uns. Eine echte Kindergrundsicherung ist das Gesetz für uns erst, wenn jedes Kind zu jeder Zeit gesund ernährt werden kann und nicht mehr die Gefahr besteht, dass Kinder aufgrund von zu wenig Geld für Essen in die Gefahr geraten, lebenslange gesundheitliche Schäden davon zu tragen.  

2. Kindergrundsicherung für alle Kinder, die in Deutschland leben 

Wir fordern die Aufnahme aller in Deutschland lebenden Kinder in die Kindergrundsicherung. Da darf es keine Ausnahme geben, denn jedes Kind, das hier lebt, muss wirksam vor Armut geschützt werden und die gleiche Unterstützung bekommen, damit es gut aufwachsen kann. Das bedeutet für uns, dass z.B. Kinder, die jetzt Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetz bekommen, zukünftig auch Unterstützung durch die Kindergrundsicherung bekommen. Auch Kinder mit Sonder- und Mehrbedarfen müssen diese über die Kindergrundsicherung abdecken können, damit es eine Leistung für alle Kinder wird.  

3. Staat muss in die Bringschuld gehen 

Damit der Staat wirklich in die „Bringschuld“ bei Sozialleistungen für Kinder geht, braucht es mehr Ambitionen beim Kindergrundsicherungs-Check und der Automatisierung der Auszahlung des Zusatzbetrages der Kindergrundsicherung. Hierzu sollte zum Beispiel ein Rechtsanspruch auf den Check gehören statt einer Kann-Regelung.  

Wir haben noch viele weitere Forderungen und Vorschläge, die wir an das Bundesfamilienministerium in einer Stellungnahme verschickt haben. Wir setzen und dafür ein, dass sich im Parlament noch etwas zum Besseren wendet, damit am Ende eine Kindergrundsicherung herauskommt, die insbesondere für Kinder in Armut etwas nachhaltig und substanziell zum Besseren wendet.  

 

Kinderarmut in Deutschland

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