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FilmfestivalBlogEmergencyLibanonPublisher Save the Children22.03.2022Filmfestival

Blog: Der Libanon ist im Ausnahmezustand

Anfangs sah die Rauchwolke, die in den Himmel über Beirut aufstieg, wie ein riesiges Ausrufezeichen aus, das über der Stadt schwebte. So, als wolle sie die Absurdität der vergangenen zwölf Monate verdeutlichen. Dann kam die erste Explosion – schreibt Nour Wahid, Mitarbeiterin von Save the Children in Beirut.

Die verheerende Explosion in Beirut hat das Zuhause von über 300.000 Menschen zerstört. © Save the Children Libanon

Über eine Woche später und der Libanon sieht aus wie ein Kriegsgebiet. Trümmer bedecken die Straßen. Viele Fenster meines Wohnblocks sind nun mit Stoffen oder Holzbrettern zugedeckt. Die Menschen haben Angst vor Giftgasen. Sie fürchten sich in ihrer Wohnung, aber sie haben auch Angst, ihr Zuhause zu verlassen.

Alle erinnern sich genau, wo sie waren, als die heftige Explosion geschah. 

Für mich war es einer der wenigen Tage in den vergangenen fünf Jahren, in denen ich das Büro früher als gewohnt verließ. Ich lebe zehn Minuten vom Hafen entfernt. Ich lag auf meinem Bett und meine Schwester zeigte mir ihr neues Kleid. Fünf meiner Nichten und Neffen spielten auf dem Balkon.

Nour Wahid, Mitarbeiterin von Save the Children im Libanon

Die Menschen in Beirut verbringen viel Zeit auf ihren Balkonen. Die Wirtschafts- und Finanzkrise des Libanon hat zu einem Einbruch der Währung geführt, was sich auf den Import von Brennstoffen auswirkte. Wegen der daraus folgenden Stromausfälle und Brennstoffknappheit sitzen viele Menschen an ihren Fenstern und auf ihren Balkonen, um frische Luft und Sonnenlicht zu bekommen.

Ein Großteil des Libanon befand sich bereits im Stillstand. Der COVID-19-Lockdown in Beirut war am Tag zuvor aufgehoben worden, aber ein neuer Lockdown sollte am Donnerstag in Kraft treten. Das war ein kurzes Zeitfenster und eine Möglichkeit, sich mit Familien und Freunden zu treffen, Sport zu treiben und sich zu entspannen.

Ich stand auf und wollte ein Foto meines Bruders und seines Sohnes auf Instagram posten, weil es sein Geburtstag war. Ich ging von einem Fenster zum anderen, um das bestmögliche Licht einzufangen.

Als ich zurück in mein Zimmer ging, begann der Boden zu beben. Erdbeben sind im Libanon keine Seltenheit. Viele Menschen, die dieses Beben spürten, rannten in ihre Flure. Ich hörte Schreie um das Haus herum und auf den Straßen. Ich rannte barfuß in den Flur. Meine Schwester schrie: Alles stürzt ein. Alles stürzt ein.

Nour Wahid, Mitarbeiterin von Save the Children

Ich sagte ihr, dass das Haus nicht einstürze, dass es ein Erbeben sei. Genau dieser Gedanke rettete so viele Menschen. Das Haus schwankte mehrmals von rechts nach links. Meine Schwester rannte zur Eingangstür. Da traf uns die zweite Explosion.

Alle Fenster in der Wohnung zersprangen. Meine Schwester flog durch das Zimmer. Die Haustür traf mich und meine Schwester. Ich bemerkte später, dass mein Arm gebrochen war.

Die Druckwelle, die von der Explosion ausging, ließ in ganz Beirut Fenster zerspringen und Decken zum Einsturz bringen. Glassplitter, Ziegelsteine und Zement regneten auf die Bürgersteige. Fahrzeuge wurden zerstört – und ganze Existenzgrundlagen.

Da wir keine Haustür mehr hatten, konnte ich mehrere Nachbarn hören und sehen, wie sie die Treppen hoch und runter liefen – schreiend und weinend. In dem Durcheinander hörten wir widersprüchliche Meldungen: "es war ein Beschuss", "ein Anschlag", "eine Explosion", "ein Erdbeben".

Meine Nichten und Neffen waren alle verletzt, ihre Füße bluteten vom Barfußlaufen auf den Glassplittern.

Nour Wahid, Mitarbeiterin von Save the Children

Alle Krankenhäuser und Kliniken in Beirut waren überfüllt. Wir wollten einen Besuch im Krankenhaus nicht riskieren. Die Explosion hatte vier Kliniken stark beschädigt, dabei hatten schon vor der Explosion viele Kliniken wegen des Coronavirus 80% ihrer Kapazitäten erreicht.

Ich arbeite für Save the Children in Beirut. Humanitäre Organisationen treffen in der Regel unmittelbar nach einer Krise oder Katastrophe ein. Aber wir befinden uns normalerweise nicht am Ground Zero, wenn die Katastrophe hereinbricht. Das Büro von Save the Children in Beirut ist nur fünf Kilometer vom Hafen entfernt und wurde stark beschädigt.

Ich ging dorthin, um nach meinen Kollegen zu sehen. Ich sah, dass auch hier nach der ersten Explosion viele in die Flure gerannt waren. Somit wurden sie von einem Großteil der Splitter durch die zweite Explosion verschont.

Manche hatten nicht so viel Glück.

Ich sah einen verletzten Mann, der seinen Kopf mit seinen Händen stützte. Seine Frau war schwanger. Sie gingen zu einem Arzt in unserem Gebäude, denn sie befürchteten, ihr Kind könne gestorben sein.

Nour Wahid, Mitarbeiterin von Save the Children im Libanon

Etwa 100.000 Kinder in Beirut sahen, wie ihr Zuhause zerstört wurde. 300.000 Menschen wurden mit einem Schlag obdachlos oder vertrieben. Die Explosion hätte zu keinem schlimmeren Zeitpunkt kommen können. Das sozio-ökonomische Gefüge des Libanon hat sich rasant verschlechtert. Proteste auf den Straßen, Verzweiflung über den Wechselkurs und die Finanzkrise, Probleme bei den Banken, überall Raubüberfälle. Die Preise für Lebensmittel, Mieten und andere lebensnotwendige Güter steigen in die Höhe.

Nur eine Woche vor der Explosion hatte Save the Children neue Analysen veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass die zusammenbrechende Wirtschaft mehr als eine halbe Million Kinder in Beirut in einen Überlebenskampf getrieben hat. Im Großraum Beirut haben 910.000 Menschen, darunter 564.000 Kinder, nicht genügend Geld, um sich überlebensnotwendige Grundnahrungsmittel zu kaufen.

Die Menschen befanden sich bereits in einem großen Ausnahmezustand.

Wir hatten bereits die Sorge, dass ohne eingreifende Maßnahmen Ende 2020 Kinder an Hunger sterben könnten. Der Libanon teilt seine östliche und die ganze nördliche Grenze mit Syrien. Gleichzeitig zur Wirtschaftskrise erlebten wir die Folgen des jahrzehntelangen Syrien-Krieges. Wir haben mehr als eine Million Flüchtlinge im Land, die Hilfe benötigen.

All dies war vor der Explosion. Bevor unser wichtigster Hafen komplett zerstört wurde. Der beschädigte Hafen ist für rund 60% der Importe des Libanon, inklusive Lebensmitteln, verantwortlich.

In den Silos am Hafen wurden 85% des Getreides des Landes gelagert, das heute praktisch vollständig vernichtet oder nicht essbar ist. Siebzehn Container mit Schutzausrüstungen für das Personal in der Bekämpfung des Coronavirus wurden ebenfalls durch die Explosion zerstört.

Unser Land steht auf Messers Schneide.

Anfangs sah die Rauchwolke, die in den Himmel über Beirut aufstieg, wie ein riesiges Ausrufezeichen aus, das über der Stadt schwebte. So, als wolle sie die Absurdität der vergangenen zwölf Monate verdeutlichen. Die unmittelbare Lebensgefahr mag vorbei sein. Der Rauch hat sich gelegt. Aber das Ausrufezeichen ist durch ein noch größeres Fragezeichen ersetzt worden.

 

Wir fragen uns täglich: Kann der Libanon überleben?

Nour Wahid arbeitet als Communications and Training Advisor für Save the Children im Libanon

So können Sie helfen

Trotz umfangreicher Schäden am Büro von Save the Children in Beirut und den traumatischen Erlebnissen für das gesamte Team vor Ort, konnte unser Länderbüro bereits unmittelbare Hilfsmaßnahmen einleiten. Im Moment wird durch die Verteilung von Material für Notunterkünfte und psychosoziale Erste Hilfe auf zwei der dringendsten unmittelbaren Bedarfe der Menschen reagiert. Außerdem ist eine zeitnahe Verteilung von Lebensmitteln, Hygieneartikeln sowie Familienzusammenführung geplant.  

Bitte unterstützen Sie unsere Arbeit im Libanon mit einer Spende, damit wir unsere Nothilfe für die Menschen vor Ort weiter ausbauen können. Vielen Dank. 

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