Das Ende einer Kindheit: Zwei ehemalige Kindersoldat*innen berichten
Vichuta Ly wurde vor über 50 Jahren als Tochter des amtierenden Justizministers in Kambodscha geboren. Mawla Jan Nazari kam zur gleichen Zeit in einem kleinen Bergdorf in Afghanistan zur Welt. Sie gingen ganz unterschiedliche Lebenswege und doch verbindet sie eine Gemeinsamkeit mit dem Schicksal unzähliger Kinder weltweit – die Rekrutierung und Ausbildung zum Kindersoldat*in. Am internationalen Tag gegen den Einsatz von Kindersoldat*innen, dem "Red Hand Day", erinnern uns ihre Geschichten eindringlich daran, dass die Missachtung von Kinderrechten im Krieg ein Verstoß gegen die Menschlichkeit ist.
Vichuta Ly wuchs während der Terrorherrschaft der Roten Khmer auf, die von 1975 bis 1979 die Bevölkerung Kambodschas auf brutalste Weise unterdrückte. Mawla Jan Nazari war noch ein Teenager, als die sowjetische Intervention in Afghanistan das Land 1979 zehn Jahre lang in einen Krieg stürzte. Zu der Zeit gab es die Vereinbarung der Vereinten Nationen (UN) zur Verhinderung der Rekrutierung von Kindern und Jugendlichen als Soldat*innen noch nicht. Das zusätzliche Protokoll zur UN-Kinderrechtskonvention trat am 12. Februar 2002 in Kraft. Seitdem markiert dieser Tag jedes Jahr als "Red Hand Day" den Internationalen Tag gegen den Einsatz von Kindersoldat*innen. Doch trotz aller Bemühungen und Fortschritte wiederholen sich die Schicksale von Vichuta und Mawla Jan täglich.
Ob im Jemen, in Syrien oder in Somalia: Noch immer werden Kinder für militärische Zwecke missbraucht. Weltweit gibt es schätzungsweise 250.000 Kindersoldat*innen. Sie werden entführt, für militärische Zwecke eingesetzt, als menschliche Schutzschilder benutzt, sexuell missbraucht und ausgebeutet, zum Transport von Sprengstoff gezwungen oder als Selbstmordattentäter eingesetzt.
So wie Peter* aus dem Südsudan. Inzwischen lebt er in einem Camp für Geflüchtete in Uganda, geht wieder zur Schule und träumt davon, Präsident zu werden. Doch vielen Kindern, die zum Kämpfen gezwungen wurden, fällt es schwer, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Sie sind stark traumatisiert, viele haben Familienangehörige und den Anschluss in der Schule verloren. Oft werden Kinder, die von bewaffneten Gruppen eingesetzt wurden, stigmatisiert und ausgeschlossen, insbesondere Mädchen.
Zwei Menschen, ein gemeinsames Schicksal: Kindersoldat*in
Die inzwischen 56-jährige Vichuta Ly weiß, was es bedeutet, als Kind für einen Krieg der Erwachsenen ausgebildet zu werden – und sich zurück in ein normales Leben zu kämpfen. Als Vichuta neun Jahre alt war, übernahm die Rote Khmer gewaltsam die Macht. Für ihr Ziel, einen kommunistischen Arbeiter- und Bauernstaat zu errichten, war ihnen jedes Mittel Recht. Auch die Indoktrination und der Einsatz von Kindersoldaten.
Vichuta Ly gelang mit 14 Jahren die Flucht ins Nachbarland Thailand, wo sie in einem Flüchtlingscamp die Save the Children Krankenschwester Anne Watts kennenlernte, mit der sie schnell eine enge Freundschaft schloss. Wenige Monate später siedelte sie mit ihrer Familie nach Kanada um. Trotz des neuen Lebens in Frieden und Stabilität dauerte es Jahre, bis sie das Trauma von Flucht, Krieg und Gewalt überwand.
Heute setzt sie sich als Menschenrechtsanwältin für Frauen und Kinder ein, die Opfer von Verbrechen und Menschenhandel geworden sind.
Mawla Jan Nazari: "Mein Bruder wurde mit 72 anderen Kämpfern bei Luftangriffen getötet."
Mawla Jan Nazari schloss sich nach dem Tod seines Bruders mit 16 Jahren den Mudschaheddin an, einer Rebellengruppe, die gegen die sowjetische Besatzungsmacht kämpfte. Als einer der Jüngsten verrichtete er zunächst vor allem Handlangerarbeiten, backte Brot und bereitete Proviant für die Kämpfer zu. Später lernte er, Waffentypen und Funkgeräte zu bedienen, wurde als Notfallsanitäter ausgebildet und versorgte verwundete Kämpfer. In Erinnerung geblieben, sind ihm vor allem die harten Winter in den afghanischen Bergen und die Hinterhalte gegen die Invasoren. Nach mehreren Jahren an der Front und in einem Camp für Geflüchtete im benachbarten Pakistan kehrte Mawla Jan Nazari mit seiner Familie zurück nach Kabul. Seine elf Kinder sollen es einmal besser haben als er, so die Hoffnung des 54-jährigen Familienvaters.
Unsere Forderung: Eine Kindheit ohne Krieg
Save the Children setzt sich seit über 100 Jahren für Kinder in Kriegs- und Konfliktgebieten ein. Kinder als Soldat*innen zu rekrutieren, ist laut UN eine der sechs gravierendsten Kinderrechtsverletzungen in Konfliktgebieten und das dramatische Ende einer jeden Kindheit. Save the Children setzt sich in Ländern wie im Südsudan, in denen Kinder zum Kämpfen gezwungen wurden oder werden, dafür ein, dass die oftmals schwer traumatisierten und stigmatisierten Kinder und Jugendlichen wieder in die Gesellschaft eingegliedert, keine weiteren Kinder als Soldat*innen eingezogen und bereits unter Befehl stehende Jungen und Mädchen wieder entlassen werden. Wir fordern alle Konfliktparteien auf, Kinder weder für militärische Zwecke zu rekrutieren, noch für militärische Hilfsarbeiten einzustehen. Kinder, die als Soldat*innen oder für militärische Zwecke eingesetzt werden, müssen sofort freigelassen werden. Zudem muss ihnen eine angemessene psychologische Betreuung und Möglichkeiten zur Reintegration gegeben werden.
Kriegserfahrung als Kind: der Fotoband "Ich lebe"
Vichuta Ly und Mawla Jan Nazari sind Teil des von Save the Children initiierten internationalen Fotoprojekts "Ich lebe". Sie gehören zu insgesamt elf Menschen, die der Fotograf Dominic Nahr im 100. Jubiläumsjahr von Save the Children portraitierte. Alle Personen eint, dass sie als Kind Krieg erlebt haben – und Hilfe durch die Kinderrechtsorganisation Save the Children erfahren haben. Ihre Schicksale reichen von den Hungersnöten des Ersten Weltkriegs bis zum Aufwachsen in Camps für geflüchtete Rohingya in Bangladesch. Zusammen ergeben sie ein eindringliches Plädoyer für die Menschlichkeit und ermutigen uns, auch künftig Kinder in Kriegen zu schützen und ihre Rechte zu verteidigen.
* Name zum Schutz geändert