Flüchtlingsschicksale: Das Sterben muss aufhören!
Philipp Hedemann ist freier Journalist. Er schreibt unter anderem für die Welt, die Neue Zürcher Zeitung am Sonntag und den Wiener Standard. Er recherchierte im November auf den griechischen Inseln, an der serbisch-mazedonischen Grenze und in Belgrad zur Flüchtlingskrise.

„Ich habe ihrer Mutter doch versprochen, dass ich gut auf sie aufpassen werde. Und jetzt, und jetzt…“ Alim* kann den Satz nicht zu Ende sprechen. Als er auf sein Telefon guckt, bricht der 33-Jährige in Tränen aus. Auch mir kommen die Tränen.
Auf dem Display ist ein Foto seines sechsjährigen Sohnes Djadi* und seiner vierjährigen Tochter Rana*. Rana* liegt zu diesem Zeitpunkt im Leichenhaus, Djadis* lebloser Körper treibt irgendwo im Meer zwischen der griechischen Insel Kos und dem türkischen Badeort Bodrum. Die beiden Kinder sind im Arm ihres Vaters ertrunken, als er sie vor Krieg und Gewalt in Sicherheit bringen wollte.
Flucht als einzige Alternative
„Was hätte ich denn machen sollen?“, entgegnet Alim* auf den Vorwurf, den nicht ich, sondern nur er selbst sich macht. „Wären wir im Irak geblieben, wären meine Kinder jetzt auch tot“, erzählt der Polizist mir in einem Hotelzimmer auf Kos. Seine Frau war zwei Jahre zuvor an Herzversagen gestorben, ihr hatte er geschworen, die vier gemeinsamen Kinder Karim* (10), Basima* (9) Djadi* und Rana* zu beschützen.
Die Hölle auf hoher See
Doch wie so viele Flüchtlinge geriet Alim* an kriminelle Schleuser, denen ein Menschenleben nichts, ihr Profit alles bedeutet. Um ihren Gewinn zu steigern, hatten die Menschenschmuggler nicht vollgetankt. Als der Außenborder stotternd ausging, wurde der überladene Kahn manövrierunfähig, Wellen schlugen ins Boot, es verlor immer mehr Luft, Panik brach aus. Das Wasser im Boot stieg höher und höher. Basima* und Karim* klammerten sich am untergehenden Boot fest. Alim*, der selbst nicht schwimmen kann, versuchte, seine beiden jüngsten Kinder irgendwie über Wasser zu halten. Doch Rana* und Djadi* schluckten immer wieder Wasser, verloren im Arm ihres Vaters mehrfach das Bewusstsein. „Schlaf nicht ein“, brüllte Alim* seinen Sohn an. Djadi* antwortete: „Papa, ich will schlafen.“
Für zwei Kindern von Alim kommt die Rettung zu spät
Als nach Stunden endlich ein Boot der griechischen Küstenwache auftauchte, kletterten Basima* und Karim* entkräftet an Bord, Alim* reichte den Rettern zunächst seine Tochter Rana*. Als er selbst an Bord gezogen wurde, entglitt ihm Djadi*. „Mein Sohn, mein Sohn, mein Sohn! Er ist da im Wasser“, schrie der Vater. Doch in der Nacht konnte niemand einen Sechsjährigen entdecken.
Als Alim* seinen Blick vom untergehenden Boot abwandte, sah er an Deck des Rettungsbootes Rana*. Die Vierjährige atmete nicht mehr. „Sie sagten mir, dass sie in meinem Arm ertrunken war, aber sie haben nicht mal versucht, sie wiederzubeleben“, erzählt der Vater mir drei Tage nachdem er zwei seiner Kinder verloren hatte.
„Noch nie hat mich eine Geschichte so mitgenommen“
Ich habe über drei Jahre als Afrika-Korrespondent gearbeitet. Mit Fluchtursachen, Fluchtrouten und Flüchtlingsschicksalen habe ich mich schon beschäftigt, lange bevor diese Themen die Schlagzeilen bestimmten. Ich habe schon oft mit Eltern sprechen müssen, die ein oder mehrere Kinder auf der Flucht verloren haben. Doch noch nie hat mich eine dieser unendlich traurigen Geschichten so mitgenommen, wie Alims* Geschichte. Vielleicht, weil ich seit 14 Monaten selbst Vater bin, vielleicht, weil Alims* Geschichte mich nicht nur traurig, sondern auch wahnsinnig wütend macht.
Denn der Tod von Alims* Kindern ist so überflüssig! Wieso müssen sich jeden Tag immer noch Hunderte Eltern in löchrige Schlauchboote setzen und dafür beten, dass sie und ihre Kinder die kurze, aber extrem gefährliche Überfahrt von der Türkei auf die griechischen Inseln überleben? Wieso werden jeden Tag Eltern gezwungen, die wohl schwierigste und quälendste Entscheidung ihres Lebens zu treffen: ‚Soll ich das Leben meines Kindes riskieren, indem ich mit ihm im Krieg bleibe, oder soll ich es riskieren, indem ich mit ihm in ein Schlauchboot steige?‘
Es fehlen legale und sichere Fluchtrouten
Vor fast drei Monaten ertrank der dreijährige Aylan aus Syrien. Seine Eltern hatten sich für die Leben-auf-dem-Meer-riskieren Variante entschieden. Kurz darauf wurde Aylans Leiche an einem Strand bei Bodrum angespült. Die Bilder lösten weltweit Entsetzen aus. Es darf keinen weiteren Aylan geben, forderten Politiker angesichts der Bilder des toten Kindes. Kurz darauf starben Rana* (4) und Djadi* (6). Vor und nach den Geschwistern starben Kinder, deren Namen wir nicht kennen. Legale und sichere Fluchtrouten für Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, gibt es immer noch nicht.
Auf Kos hatten fast alle Eltern Alims* Geschichte gehört. Das Mitgefühl mit dem Witwer, der auf der Flucht zwei seiner Kinder verloren hatte, war groß. Alle Eltern wussten, dass sie das gleiche Schicksal wie Alim hätte ereilen können. Trotz der Trauer um die toten Kinder wirkten viele der Flüchtlinge zugleich auch beschwingt. Sie wussten, dass sie den schwierigsten und gefährlichsten Teil der Flucht geschafft hatten.
Übernächtigt, durchgefroren und gequält von der Furcht
Als ich einige der Menschen, die ich auf Kos kennengelernt hatte, ein paar Tage später im serbischen Presevo, in der Nähe der mazedonischen Grenze wiedertraf, war von der Euphorie meist nicht mehr viel übrig geblieben. Übernächtigt, durchgefroren und gequält von der Furcht, dass die vielen noch vor ihnen liegenden Grenzen plötzlich dichtgemacht werden könnten, standen sie in langen Schlangen und warteten auf die Papiere, die sie zur Weiterreise brauchten. Mir fielen die vielen Babys und Kinder auf, die mit laufenden Nasen und rasselnden Bronchien auf den Armen ihrer Eltern eingeschlafen waren. Viele von ihnen sahen wie kleine, besorgte Erwachsene aus.
Kraft tanken in geschützen Räumen von Save the Children
Doch ich habe auch Kinder gesehen, die wie Kinder aussahen und sich wie Kinder benahmen. Mit einigen von ihnen habe ich in einem Raum, den Save the Children für Kinder und Mütter eingerichtet hatte, gesprochen. Während ihre Väter und Männer auch nachts bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt Schlange standen, konnten sie sich in dem mit Betten vollgestellten Raum zumindest für ein paar Stunden aufwärmen und erholen. Während die Mütter, die ihre schlafenden Kinder oft stundenlang gehalten oder getragen hatten, meistens sofort einschliefen, griffen die Kinder oft zunächst zu Stift und Papier. Nachdem sie die Eindrücke ihrer Flucht gemalt hatten, kuschelten sie sich an ihre Mütter und Geschwister und schliefen ebenfalls ein, in vielen 90-Zentimeter-Betten lagen vier Personen eng ineinander verschlungen. Zumindest für ein paar Minuten oder Stunden.
Ausgestattet mit warmer Kleidung, Babynahrung, Windeln und feuchten Tüchern setzten sie ihre Reise kurz darauf fort. „Hier habe ich mich das erste Mal auf unserer Flucht richtig wohlgefühlt“, sagte die achtjährige Zahra* aus Damaskus mir, bevor sie weiter musste. Auch wenn es nur ein paar Stunden waren, Zahra* und vielen anderen Kindern und Müttern gibt die Zeit im Save the Children-Raum Kraft für die nächsten Etappen der Flucht. Kraft, die sie brauchen werden.
*Namen geändert