Kein hoffnungsloser Fall – Haiti ein Jahr nach dem Beben
„Was ist mit den Millionen Spendengeldern passiert, die aus der ganzen Welt nach Haiti geflossen sind? Warum liegen noch immer Trümmerberge in den Straßen der Hauptstadt Port-au-Prince? Warum haben es Hilfsorganisationen nicht geschafft, die Cholera einzudämmen?“ Das sind die Fragen, die Freunde und Bekannte immer wieder stellen. Heute ein Jahr nach dem Beben scheint Haiti für viele ein hoffnungsloser Fall zu sein.
Ich war vor einigen Wochen unterwegs in Haiti, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Ich habe gesehen, wie meine Kollegen von Save the Children in Port-au-Prince Cholera Quarantänestationen aufbauen, wie sie Kinder über Vorsichtsmaßnahmen aufklären, damit sie sich nicht mit der tödlichen Krankheit anstecken. Ich habe Gesundheitsstationen besichtigt, wo Mütter und Babys versorgt wurden und Schulen, wo Kinder gelernt haben, wie sie sich vor künftigen Katastrophen schützen können. – Wichtige Arbeit, die Mut macht und zeigt, dass sehr wohl etwas passiert in Haiti und dass der Wiederaufbau vorangeht – wenn auch viel, viel langsamer, als wir alle uns das wünschen.
Schutt und Asche
Noch immer liegen15 bis 19 Millionen Kubikmeter Trümmer in den Straßen von Port-au-Prince. Selbst wenn es gelänge jeden Tag 1000 Lastwagenladungen abzutransportieren, würde es weitere drei Jahre dauern, den Schutt vollständig wegzuräumen. Mit den Trümmern in Haitis Straßen könnte man mehrere deutsche Fußballstadien füllen!
Und dann sind da die Toten. Auch heute, ein Jahr nach dem Beben, werden noch immer Leichen unter den Trümmern gefunden. Für die Helfer, viele von ihnen Haitianer, die selbst Angehörige verloren haben, eine schreckliche Arbeit.
Ein Riesenproblem sind auch die ungeklärten Besitzverhältnisse: Wem gehört welches Land, wer darf wo bauen – Fragen, die schwer zu beantworten sind. Viele Besitzer sind ums Leben gekommen, andere sind geflohen. Dokumente und Urkunden sind verschwunden.
Auch deshalb leben noch immer mehr al seine Million Menschen in Zeltlagern, oft nur notdürftig unter Plastikplanen. Viele von ihnen haben keine Alternative. Andere sind froh zum ersten Mal in ihrem Leben immerhin Zugang zu sauberem Wasser, einer Schule und einem Arzt zu haben.
Zeiten der Cholera
Schließlich ist da noch die Choleraepidemie, die Katastrophe nach der Katastrophe. Als im Oktober die ersten Erkrankungen bekannt wurden, waren die Menschen völlig unvorbereitet und hilflos. Cholera hatte es auf Haiti seit mehr als 60 Jahren nicht gegeben. Ein Wunder eigentlich, wenn man die katastrophalen hygienischen Bedingungen überall im Land sieht. Rauchende Müllberge, Brackwasser in den Straßen und dazwischen spielende Kinder. 4000 Menschen sind inzwischen gestorben. Gesundheitsexperten befürchten, dass mindestens 400,000 Menschen erkranken könnten.
Zu der langen Liste von Problemen und Schwierigkeiten kommt schließlich auch noch die politische Instabilität. Die Präsidentschaftswahl im November war begleitet von Ausschreitungen. Einen eindeutigen Sieger gab es am Ende nicht. Die für Januar angesetzte Stichwahl wurde verschoben. Dabei ist eine starke Regierung Voraussetzung für einen erfolgreichen Wiederaufbau. Save the Children und die vielen anderen Hilfsorganisationen können keine Ersatzregierung bilden. Wir sind darauf angewiesen mit einer neuen haitianischen Regierung zusammen zu arbeiten.
Wiederaufbau ist ein Marathon
Heute, ein Jahr nach dem Beben in Haiti, ist die Katastrophe noch längst nicht vorbei. Wir haben viel erreicht – 900.000 Menschen konnte Save the Children helfen, 45.000 Mädchen und Jungen zur Schule schicken, 350.000 Kinder und ihre Familien mit sauberem Wasser, Latrinen und Duschen versorgen. Aber es bleibt noch viel zu tun.
Am Ende der Reise in Haiti bleibt der Satz von Gary Shaye, Länderdirektor von Save the Children in Haiti, in meinem Kopf. „Haitis Wiederaufbau ist ein Marathon, kein Sprint.“ Wir brauchen Ausdauer und einen langen Atem. Dann können wir es gemeinsam schaffen, den Kindern in Haiti eine bessere Zukunft aufzubauen.