Projektbesuch in Kenia
Helene Mutschler ist Fundraising-Direktorin bei Save the Children Deutschland und war im August gemeinsam mit unserer Geschäftsführerin Susanna Krüger in Kenia, um einige unserer Projekte zu besuchen. In diesem Blog schreibt sie von ihren Eindrücken.
„Ladies and Gentlemen, welcome to Dadaab. Dadaab is our final destination”, heißt es durch die Lautsprecher des Flugzeugs der UN, das uns an diesem August-Morgen nach Kenia bringt. Keine 100 Kilometer von der somalischen Grenze befindet sich dort das einst größte Flüchtlingslager der Welt. Von normalen Fluggesellschaften wird dieses Ziel nicht angeflogen. Meine Projektreise durch Kenia beginnt in Dadaab – für hunderttausende, meist somalische Flüchtlinge ist hier tatsächlich final destination, Endstation, teils schon seit Jahrzehnten. „Dadaab ist unser Zuhause“, höre ich einige Mütter und Väter später in Gesprächen sagen. Hier sind ihre Kinder geboren, hier haben sie sich eine wirtschaftliche Existenz aufgebaut, ihre Hütten sehen schon lange nicht mehr provisorisch aus, sie wollen bleiben. Und sie sollen auch bleiben, findet die lokale Bevölkerung, die sich vor Kurzem erst für den Erhalt des Lagers ausgesprochen hat.
Felsiger, harter Ort
Im Gegensatz zu uns kommen die Menschen in Dadaab nicht mit dem Flugzeug an, sondern auf strapaziösen und lebensgefährlichen Fluchtrouten durch das somalische Grenzgebiet. Für viele, vor allem aber für die wachsende Anzahl der Kinder, die ihre Eltern im Krieg oder auf der Flucht verloren haben, bedeutet das Gewalterfahrungen, Misshandlungen, Menschenhandel, Prostitution und Hunger – zerstörte Leben. Dadaab heiße „felsiger, harter Ort“ lese ich, und das trifft offenbar auf so vielen Ebenen zu.
Was ist mit einer Rückkehr nach Somalia, wie sie die kenianische Regierung fördert, fragen wir einige Mütter. Sie wehren sich mit Händen und Füßen. Somalia, no future, übersetzt der Kollege. Angehörige haben das versucht, einige sind umgekommen, viele wieder zurückgekehrt. In Somalia herrschen Krieg und Terror, die Al-Shabab-Milizen wüten dort. Hinzu kommen immer wieder Dürren, die sämtliche Lebensgrundlagen zerstören. Eins ist jedoch klar: Das stärkste Argument für Kenia ist die Sorge um die Kinder. Und der unbedingte Wille, dass diese zur Schule gehen und was aus sich machen sollen, auch für ihre Eltern. Die Kinder sollen es besser haben, sie sollen Ärzte und Lehrer werden und die Eltern unterstützen, darauf setzen sie alles, und dafür opfern sie sich auf – der weltweite Migrationsklassiker und ganz schön viel Druck auf diesen schmalen Kinderschultern, denke ich. Und dann auch noch hier, in Dadaab, ausgerechnet. Wie soll das gehen?
Pflegefamilien und ABE-Schützen
Unsere Kollegen zeigen uns, wie unsere Organisation diese Kinder und ihre Eltern unterstützt: Wir suchen zum Beispiel Pflegefamilien für unbegleitete oder ausgesetzte Kinder und begleiten sie danach in ihren neuen Familien. Wir lernen eine Frau kennen, die hochschwanger mit ihrem dritten Kind ein ausgesetztes Baby buchstäblich auf der Straße aufgelesen und es mit ins Krankenhaus genommen hat. Nach der Entbindung ihres eigenen Kindes hat sie gegenüber der Nachbarschaft und ihren eigenen Kindern behauptet, die Kinder seien Zwillinge. In diesem Glauben wachsen sie auch auf, nun schon seit sechs Jahren. Die Geschichte von den Zwillingen soll das Kind vor Ausgrenzungen schützen. „In meiner Kultur ist es so: Wenn du ein Kind in Not siehst, musst du dich darum kümmern“, sagt die Frau zur Begründung. Eine filmreife Geschichte im roten Sand.
Und wir bereiten Kinder in so genannten ABE-Projekten (Alternative Basic Education) darauf vor, den Übergang in das kenianische Schulsystem und die regulären Schulen zu schaffen. 40.000 Kinder in Dadaab können nicht zur Schule gehen. Wir helfen so vielen wie möglich. Die Nachfrage ist riesig, die Schulräume überfüllt, manchmal unterrichten die Kolleginnen und Kollegen draußen im Schatten der Bäume, weil nicht alle in eine Klasse passen. Das Projekt hat sie und ihre Kinder aus der Dunkelheit geführt, sagt eine Mutter, die jetzt durch die Hütten zieht und dieses Licht zu den anderen Familien trägt. Denn nicht alle wissen von den Möglichkeiten. Und unsere Arbeit zeigt Früchte, die Aufnahmequoten an regulären Schulen sind hoch. Wir lernen Kinder kennen, die es schon nach einem Jahr geschafft haben und jetzt fließend Englisch sprechen. Das ist ihnen wichtig, auch um andere Religionen besser zu verstehen, so ein O-Ton.
Präsidentin von Kenia
„Ich will Präsidentin von Kenia werden“, sagt ein 14-jähriges Mädchen. Leise zwar, aber sehr bestimmt. Dabei haben es gerade Mädchen in Dadaab schwer. Kulturelle Normen und patriarchale Strukturen machen oft schon früh Schluss mit all den Hoffnungen auf mehr. Für unser Team ist es eine der größten Herausforderungen: Obwohl die schulischen Leistungen und die Aufnahmequoten an Regelschulen bei den Mädchen besonders hoch sind, ist ihr Verbleib in der Schule mit dem Beginn der Pubertät fast immer ein Kampf. Frühverheiratung, Zwangsehen, Kinderarbeit – ohne Unterstützung und Aufklärung sind das für viele Mädchen vorgezeichnete Lebenswege. Gebraucht wird natürlich noch viel mehr: Die Eltern wünschen sich Schulspeisungen, mehr Bücher, ausgebildete Lehrer, Planbarkeit und Verlässlichkeit – denn unsere Mittel sind knapp. „It’s easier to build strong children than to repair a broken man,” hängt als Zitat an der Wand im Lehrerzimmer eines unserer Lernzentren. Ein Motto, das unsere Arbeit so ungemein treffend motiviert, eigentlich überall.
Dadaab heißt auch: extreme Sicherheitsvorkehrungen, gepanzerte Wagen und ständige Alarmbereitschaft. Vor Einbruch der Dunkelheit sind wir zurück auf dem Gelände der Hilfsorganisationen, auf der Terrasse unseres Feldbüros läuft der Fernseher: Big Bang Theory und Quizshows. Katzen streunen umher, und ich checke kurz meinen Twitterfeed. In Deutschland Debatte darüber, ob Kinder, die noch kein Deutsch können, eingeschult werden sollen. Alles findet gleichzeitig statt, sagt Susanna, meine Chefin, und ich kann nur zustimmen und es gleichzeitig nicht fassen.
Am nächsten Tag verlassen wir diesen Schmelztiegel aus Staub und Hoffnung, nachdem nicht nur unsere Koffer, sondern auch wir selbst gewogen wurden und man das Gepäck in den Hubraum des ECHO-Flugzeugs verladen hat. In Richtung Nairobi werden die Gesichter der Passagiere immer entspannter und fröhlicher, lacht der Pilot. Für einen Moment schnürt es mir die Kehle zu.
Nairobi – Haut an Haut
Unsere Reise geht weiter und führt uns in den Mathare-Slum in Kenias Hauptstadt. Hier in Nairobi ist die Gleichzeitigkeit der Dinge noch viel präsenter. Man sieht die wirtschaftliche Entwicklung und die aufstrebende Mittelschicht. Zugleich dient in einem der größten Slums der Stadt ein winziges Krankenhaus Hunderttausenden von Frauen und Müttern als Frauen- und Geburtsklinik. Die Flure sind überfüllt, die Luft steht, ein hygienischer Alptraum und doch immer noch besser als nichts, denn das ist die Alternative. Hier in Mathare hat meine Organisation die Känguru-Methode implementiert, bei der zu früh geborene Babys durch enges Anlegen an den Oberkörper der Mütter (oder der Väter) im Tragetuch und stetes Tragen sehr gute Überlebenschancen haben. Ich hatte schon unzählige Fotostrecken der Mütter mit ihren Säuglingen aus Mathare gesehen, aber mit eigenen Augen zu erleben, unter welchen Bedingungen das alles hier stattfindet, bedrückt mich sehr. Weil die Methode so simpel und so erfolgreich ist, ist ihre Akzeptanz hoch. Doch sie ist nur ein kleines Puzzleteil bei der gesundheitlichen Versorgung von Frauen und Kindern. Wir lernen eine junge Frau mit ihrem anderthalbjährigen Sohn kennen, der auch mal ein solches Känguru-Baby war und jetzt für einen Anderthalbjährigen beachtlich schnell durch die Flure flitzt. Die junge Mutter – auch in Mathare ist Frühverheiratung und Mangel an Aufklärung und Verhütung Thema – will jetzt Friseurin werden, mit deutlich erkennbarem Mut zu Schnitt und Farbe. Wir können nicht lange bleiben, auch hier ist Sicherheit ein Thema, aber der Eindruck hallt noch lange nach.
Turkana - Der Klimawandel als bittere Realität
Die letzte Station ist die nordkenianische Provinz Turkana, Schauplatz dessen, was Klimawandel und anhaltende Dürren schon jetzt für das Leben von Kindern bedeuten. „Climate change is real“, sagt ein Kollege, und alle nicken zustimmend. Die Regenzeiten sind durcheinandergekommen, sie fallen aus oder kommen zu ungewöhnlichen Zeiten, mit desaströsen Folgen für die Lebensgrundlagen der Menschen: Ihre Tiere verenden, die Brunnen versiegen, die Kinder haben nicht mehr genug zu essen und sind deshalb viel anfälliger für Infektionskrankheiten. Bei geschwächten Kindern verlaufen sie tödlich. Wir betreiben deshalb Gesundheitsstationen, die wir besuchen, und bilden lokale Gesundheitshelfer aus, die mit einfachen Methoden und Mitteln den physischen Zustand von Kindern sowie schwangeren und stillenden Müttern beobachten. Simple Erkrankungen können sie rechtzeitig behandeln, schwere Fälle erkennen und in Krankenhäuser überweisen.
Wir lernen hier den zwölfjährigen Fußballfan Mathew kennen, der Hiphop liebt und dessen Geschichte wir an anderer Stelle erzählen werden. Bei dem Gespräch mit ihm fällt mir auf, dass auch wir ständig und fast mechanisch alle Kinder fragen, was sie denn werden wollen, dabei sind sie schon so viel, jetzt und hier, in Turkana und Dadaab und überall auf der Welt.
Zum Schluss fahren wir vier Stunden über Sandpisten gefühlt ans Ende der Welt – in eine abgelegene Region in Nordturkana, vorbei am Monument für den so genannten Turkana-Boy, laut Wikipedia „Fossil eines männlichen, jugendlichen Individuums der Gattung Homo, dessen außergewöhnlich vollständig erhalten gebliebenes Skelett im August 1984 in Kenia am Trockenfluss Nariokotome, rund 5 km westlich des Turkana-Sees, entdeckt wurde.“ Die Wiege der Menschheit liegt auch in Turkana, und diese Menschheit ist dabei, die eigene Wiege auszutrocknen. Wir helfen hier in Nordturkana vor allem den Müttern dabei, aus eigener Kraft das Leben für sie und ihre Kinder zu verbessern. Mit unserer Unterstützung organisieren sie sich z.B. in Spargruppen und legen gemeinsam Geld zurück. Wenn einer Familie Geld fehlt, springt die Gemeinschaft ein – ein System, das sich weltweit bewährt hat. Wer das Ersparte bekommt, ist eine gemeinsame Entscheidung. So können Notlagen aufgefangen – wenn zum Beispiel Geld für Medikamente oder den Schulbesuch fehlt – , aber auch größere Vorhaben realisiert werden, wie die Umsetzung einer Geschäftsidee, die zukünftig das Einkommen einer Familie sichern kann. Die Frauen strotzen vor Selbstbewusstsein und berichten, dass sie jetzt alles wissen und können, um selbständig weiterzumachen. Unsere Beratung habe ihnen die Augen geöffnet, das war wichtig. Aber jetzt haben sie Klarheit und große Träume. Eine Frau denkt an eine Tankstelle, die andere daran, Gästezimmer zu betreiben. Als Dank tragen sogar manche Ziegen, die von dem Geld der Spargruppe gekauft wurden, den Namen „Save“, erzählen sie uns. Die Frauen lachen sehr viel, auch über uns und unsere wenig schmucken Outfits. Sie schenken uns Ketten, Armbänder und Kopfputz, damit sich der feierliche Moment, den wir zusammen erleben, auch in unserem Äußeren widerspiegelt. Nach dem Austausch tanzen wir und machen viele Selfies.
Whatever it takes!
Zurück in Turkanas Hauptstadt Lodwar passieren wir Kirchen und Kirchenschulen, sogar eine kleinere Ausgabe der Christusstatue aus Rio gibt es hier. Am Flughafen treffen wir einen kenianischen Kollegen, der aus der Region stammt und jetzt nach ein paar Tagen in der Heimat auf dem Weg ist in den Südsudan. Als Mitglied des mobilen Gesundheitsteams von Save the Children wird er die dortigen Kinder und ihre Familien vor dem erneuten Ausbruch von Ebola zu schützen versuchen. Weltweit tun unsere Kolleginnen und Kollegen alles Menschenmögliche, um Kindern zu helfen. In noch so abgelegenen Regionen und unter noch so gefährlichen Bedingungen. Whatever it takes.